Politologe Andri Heimann referiert an einem Panel der Aarauer Demokratietage.

Soll das Los entscheiden?


Bürgerräte sind voll im Trend, sogar bei den Jungen. Pure Willkür oder eine Riesenchance für das Jahrhundertprojekt Tiefenlager? Politologe Andri Heimann hat Antworten.

Seite teilen

Stellen Sie sich vor, ein Losverfahren entscheidet darüber, wer an der nächsten Gemeindeversammlung teilnehmen darf. Klingt erst mal komisch, doch genau das ist das Prinzip von Bürgerräten. Diese Form der Partizipation ist zwar nicht neu, aber in Europa auf dem Vormarsch. In der direkten Demokratie der Schweiz nicht nötig? Das sieht Politologe Andri Heimann in unserem Interview anders.

Doch was hat das alles mit dem geologischen Tiefenlager zu tun? Nun, die Menschen der Region können sich in der Regionalkonferenz Nördlich Lägern einbringen. Und in einigen Jahren befindet möglicherweise das Schweizer Stimmvolk darüber, ob das Tiefenlager gebaut wird. Politologe Andri Heimann erklärt im Interview, dass sich komplexe und langfristige Themen besonders gut für Bürgerräte eignen.

Und was ist komplexer und langfristiger als das Jahrhundertprojekt Tiefenlager?

Herr Heimann, sind Bürgerräte die zukünftigen Gemeindeversammlungen?
Nein, das glaube ich nicht. Gemeindeversammlungen gehören zu unserer Kultur und unserer Geschichte. Sie sind fest verankert im politischen System.

Es ist aber auch berechtigt, das Format der Gemeindeversammlung zu hinterfragen. Es sind oft weniger als 5 Prozent der Stimmberechtigten anwesend und meistens sind es immer die gleichen.

 

Was schwebt Ihnen vor?
Ein Losverfahren, so wie bei den Bürgerräten, wäre zumindest eine interessante Idee. Dieses könnte sicherstellen, dass die Stimmbevölkerung besser abgebildet wäre.

Der Politologe Andri Heimann hat diverse Bürgerräte in der Schweiz wissenschaftlich begleitet.

«Das Losverfahren in Demokratien ist nichts Neues.»


Ist ein Losverfahren demokratisch legitim? Das tönt so nach Zufall…
Die Frage ist immer: legitim wofür? Um für einen Bürgerrat ein vielfältiges Abbild der Bevölkerung zusammenzubringen, die eine konkrete Fragestellung behandelt und beratende Empfehlungen ausspricht? Ja, dafür ist es durchaus ein legitimes Mittel.

Das Losverfahren in Demokratien ist zudem nichts Neues: Es kam schon im antiken Griechenland und bis ins 18. Jahrhundert auch in der Schweiz immer wieder zum Einsatz, wenn es politische Ämter zu besetzen gab. Das Losverfahren mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, doch es hat einen grossen Vorteil: Chancengleichheit. Das fördert die Unabhängigkeit und erschwert Korruption, Vetternwirtschaft oder die Durchsetzung von Partikularinteressen.

 

In Europa schiessen Bürgerräte wie Pilze aus dem Boden. Wie sieht es in der Schweiz aus?
Der erste Schweizer Bürgerrat mit Losverfahren fand 2019 in Sion statt. Dort erarbeitete ein Bürgerrat eine niederschwellige Information zuhanden der Bevölkerung für eine bevorstehende Abstimmung. Das Projekt war also an die direkte Demokratie gekoppelt und löste grosses Interesse aus. Seither gab es 15 Bürgerräte in der Schweiz. Die meisten setzten sich mit Klimathemen auseinander.

 

Warum sind Bürgerräte bei der Klimathematik so im Trend?
Es geht um eine der grössten Herausforderungen überhaupt. Das erfordert komplexe Lösungen, die ausdiskutiert werden müssen. Bürgerräte bieten die Chance, Menschen mit unterschiedlichen Ansichten ins Gespräch zu bringen und gemeinsam tragbare Lösungen zu erarbeiten.

Ausserdem geht es bei der Bekämpfung der Klimakrise um Entscheidungen, bei denen jetzt Massnahmen nötig sind und Kosten anfallen. Die Folgen werden jedoch erst langfristig sichtbar werden. Politikerinnen und Politiker sind meistens interessiert daran, möglichst schnell einen Unterschied zu machen und Erfolge auszuweisen. Die nächsten Wahlen stehen bekanntlich bald vor der Tür. Bürgerräte können bei solchen langfristigen Herausforderungen helfen, schwierige Entscheidungen breit abzustützen.

Bürgerräte sind aber keineswegs auf Klimathemen beschränkt. Sie wären für viele andere Themen genauso geeignet.

Das könnte Sie auch interessieren
Beziehungsstatus Wissenschaft und Demokratie: Es ist kompliziert
Beziehungsstatus Wissenschaft und Demokratie: Es ist kompliziert

Warum Bürgerpanels das Klima nicht retten, sie der Demokratie aber neuen Schwung verleihen könnten. Und was die Regionalkonferenz damit zu tun hat.

Zum Beispiel, wenn es um ein geologisches Tiefenlager geht? Die Regionalkonferenz Nördlich Lägern gibt es schon seit 2011.
Absolut. Beim Tiefenlager und generell beim Umgang mit radioaktiven Abfällen gibt es eine Reihe von Grundsatzfragen, die gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen. Das ist eine spannende Voraussetzung für einen Bürgerrat.

Ich muss aber gleichzeitig betonen, dass ein Bürgerrat keinesfalls die Aufgaben einer Regionalkonferenz übernehmen kann. Überhaupt lassen sich die Formate Bürgerrat und Regionalkonferenz nur schwer miteinander vergleichen.

 

Was ist denn so unterschiedlich daran?
Der grösste Unterschied ist offensichtlich der Einsatz des Losverfahrens und damit die Zusammensetzung dieser Formate. In der Regionalkonferenz sind meines Wissens in erster Linie die Politik, Behörden und vereinzelt Menschen aus der Bevölkerung abgebildet, die Zeit und Lust haben.

Es ist daher eine offene Frage, inwiefern solche Formate die vielfältigen Stimmen aus der breiten Bevölkerung einbinden können. Der Faktor Zeit ist ausserdem gerade für jüngere Menschen sehr wichtig. Diese möchten sich in diesem Alter nicht über mehrere Jahre verpflichten, sondern sich lieber punktuell und themenspezifisch einbringen.

 

Aber die Regionalkonferenz kann sich ja nicht an zwei Wochenenden mit der ganzen Thematik beschäftigen.
Das geht tatsächlich nicht, daher sind die beiden Formen ja so unterschiedlich. Je nach Komplexität des Themas dauert ein Bürgerrat kürzer oder länger. Auf nationaler Ebene tagen Bürgerräte meistens an mehreren Sitzungen über mehrere Monate hinweg. Dennoch ist ein Bürgerrat immer ein zeitlich begrenztes Verfahren mit einer konkreten Fragestellung. Das ist bei der Regionalkonferenz Nördlich Lägern anders, sie existiert ja schon sehr lange und bewirtschaftet eine Vielzahl unterschiedlicher Themen.

Denkbar wäre allenfalls, dass die Regionalkonferenz punktuell einen Bürgerrat einsetzt. Nämlich dann, wenn ein brisanter Aspekt behandelt wird, bei dem die Bevölkerung stark betroffen ist. Da könnte ein Bürgerrat helfen, eine informierte Sichtweise aus der Bevölkerung zu liefern.

Zur Person
Andri Heimann ist als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) tätig. Der Politologe forscht zu neuen Formen von Bürgerbeteiligungen und hat diverse Bürgerräte in der Schweiz wissenschaftlich begleitet.

Alle Bilder: Cornelius Fischer Fotografie

Was auffällt: In Bürgerräten sind jüngere Menschen im Gegensatz zu anderen Formen der Partizipation gut vertreten. Wie wird das konkret erreicht?
Mit dem zweistufigen Losverfahren: Während in einem ersten Schritt mittels purem Zufall Personen eingeladen werden, an einem Bürgerrat mitzumachen, findet unter allen interessierten Personen eine zweite Losziehung statt. Dabei wird darauf geachtet, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrer Verteilung in der Bevölkerung abgebildet und miteinbezogen werden.

 

Vom Losverfahren abgesehen: Was macht generell eine gute Partizipation aus?
Wichtig ist eine gute Moderation. Sie stellt sicher, dass sich alle einbringen können. Ebenso wichtig ist das Erwartungsmanagement. Es muss klargestellt werden: Wo kann das Gremium mitbestimmen und wo nicht? Und wie fliessen die Ergebnisse zurück in den politischen Entscheidungsprozess? Ist dieser Handlungsspielraum nicht klar abgesteckt, entsteht Frustpotenzial.

«Bürgerräte scheinen eine Form der Partizipation zu sein, die für junge Menschen attraktiv ist.»


Braucht es auch finanzielle Anreize?
Ein interessanter Punkt! Im Kanton Zürich haben wir ein Sitzungsgeld von 150 Franken pro Tag ausbezahlt. Ergibt 600 Franken für zwei Wochenenden. Die Entschädigung ist wichtig, um die Teilnahmehürden abzubauen.

Eine Bevölkerungsbefragung hat uns nun aber gezeigt: Entscheidend für eine Teilnahme ist der finanzielle Aspekt nur selten, zum Beispiel bei den Jungen. Eine alleinerziehende Mutter opfert ihr Wochenende auch nicht für den Bürgerrat. Erhält sie aber Geld für die Kinderbetreuung, dann nimmt sie eher daran teil. Die Entschädigung sollte also bedarfsorientiert ausfallen. Zudem ist ein Zeichen der Wertschätzung nie verkehrt.

 

Welche Ergebnisse haben Sie in Ihren bisherigen Forschungen am meisten überrascht?
Wie schon erwähnt die höhere Teilnahmebereitschaft von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Bürgerräte scheinen eine Form der Partizipation zu sein, die für junge Menschen attraktiv ist. Und: Praktisch alle Teilnehmenden fanden es bereichernd, sich mit Andersdenkenden respektvoll auszutauschen und Lösungen zu entwickeln.

 

Mit der direkten Demokratie haben wir in der Schweiz viele Mitwirkungsmöglichkeiten. Wo könnten Bürgerräte die Schweiz in Zukunft noch demokratischer machen?
In der Schweiz können wir alle drei Monate auf mehreren Ebenen über konkrete Sachvorlagen abstimmen, das ist weltweit einzigartig. Bürgerräte sind auch bei uns eine wertvolle Ergänzung, weil sie früher im politischen Prozess eine Beteiligung ermöglichen.

Das nimmt auch Druck von Entscheidungsträgern: Gemeinderätin oder Politiker zu sein, ist oft nicht einfach. Da müssen Entscheide mit grosser Tragweite getroffen werden. Können die gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter in spezifischen Fragen durch Bürgerräte unterstützt werden, könnte das diese Ämter auch wieder attraktiver machen.

Ähnliche Beiträge
«In den Gesteinen steckt die Geschichte unserer Landschaft»
23.04.2024 #Menschen
«In den Gesteinen steckt die Geschichte unserer Landschaft»

Gaudenz Deplazes fasziniert die Vielseitigkeit des Projekts Tiefenlager. Neugier, Genauigkeit und eine Prise Pioniergeist begleiten den Geologen bei seiner Arbeit.

Das Experten-ABC mit Maurus Alig
10.04.2024 #Menschen
Das Experten-ABC mit Maurus Alig

Viele Buchstaben und verwirrende Abkürzungen: Bei all den Expertengremien verliert man schnell einmal die Übersicht. Maurus Alig zeigt auf, wer alles zur Sicherheit des Tiefenlager beiträgt.

«Es gibt keine Ausbildung zum 'Experten'»
05.04.2024 #Menschen
«Es gibt keine Ausbildung zum 'Experten'»

Der Historiker Caspar Hirschi ist „Experte für Experten“. Er erklärt, welche Rolle wissenschaftliche Expertise bei Langzeitprojekten spielt – und warum es nicht nur technisches Wissen braucht.