Caspar Hirschi

«Es gibt keine Ausbildung zum 'Experten'»


Der Historiker Caspar Hirschi ist «Experte für Experten». Er erklärt, welche Rolle wissenschaftliche Expertise bei Langzeitprojekten spielt – und warum es nicht nur technisches Wissen braucht.

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Serie: Wer weiss was?

Es gibt sie heutzutage für alle erdenklichen Themen und Fachgebiete: Expertinnen und Experten. Doch was ist das eigentlich genau, ein Experte? Wer entscheidet, ob jemand Expertin ist oder nicht? Und wer kontrolliert die Expertinnen und Experten des Jahrhundertprojekts Tiefenlager?

Das beleuchten wir in unserer dreiteiligen Serie. Teil zwei: Ein Interview mit dem Experten für Experten – Caspar Hirschi

Hier geht’s zum Teil eins

2050 soll das Tiefenlager der Nagra in Betrieb genommen werden. Welche Rolle spielen Expertinnen und Experten, damit ein solcher «Jahrhundertprozess» abgeschlossen werden kann?
Bei Langzeitprojekten ist in Bezug auf wissenschaftliche Expertise die Dynamik ganz anders als bei akuten Krisen wie der Coronapandemie. Bei akuten Krisen geht’s häufig um schnelle Entscheidungen mit hohen Risiken. Man muss also die Unsicherheit und Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis betonen, damit die Bevölkerung nachvollziehen kann, dass sich das Wissen und entsprechend auch die Massnahmen zwangsläufig verändern werden. Bei der Pandemie hat das für Irritationen gesorgt, beispielsweise in der Maskenfrage. Bei einem Langzeitprojekt wie dem Tiefenlager darf hingegen erwartet werden, dass die geplanten Massnahmen eine stabile und solide Wissensbasis haben. Umso wichtiger ist es, sehr gut zu begründen, wenn partiell neue Erkenntnisse zu veränderten Bewertungen führen – etwa bei der Sicherheitsbeurteilung verschiedener Standorte für ein Tiefenlager; sonst entstehen auch hier rasch Irritationen.

Wie können die Verantwortlichen diesen Irritationen begegnen?
Es ist wichtig, der Bevölkerung verständlich zu machen, in welchen Bereichen das wissenschaftliche Wissen stabil ist und wo es sich dynamisch weiterentwickelt. Dadurch kann man künftigen Irritationen teilweise vorbeugen. Wissenschaftliche Expertinnen und Experten können Vertrauen schaffen, indem sie das Versprechen abgeben, dass neues Wissen, sobald es einigermassen abgesichert ist, auch kommuniziert wird. Es geht also darum, Verständnis dafür zu schaffen, dass Wissenschaft ein Prozess ist und nicht mit Ergebnissen arbeitet, die in Stein gemeisselt sind.

Ist es beim Projekt Tiefenlager gelungen, dieses Vertrauen zu schaffen?
Ich kann das von aussen schlecht beurteilen. Aber was ich eindrücklich fand: Dieser ganze Prozess fand nicht in geschlossenen Expertengremien statt, die Lokalpolitik und die Bevölkerung wurden aktiv einbezogen. Bei Entscheidungen, welche die Bevölkerung stark betreffen und wo die Meinungen deutlich auseinandergehen, können wissenschaftliche Experten alleine nicht viel ausrichten. Es braucht die Moderation von Menschen, die in der Region viel Vertrauen geniessen und auch politisch legitimiert sind. Das Vertrauen in Expertinnen und Experten hängt dagegen stark davon ab, ob sie als unabhängige Stimme ihres Fachs wahrgenommen werden. Werden sie als wissenschaftliche Anwälte der Nagra wahrgenommen, können sie wenig ausrichten.

Wann ist denn eine Expertin unabhängig?
Unabhängigkeit heisst, dass die involvierten Experten keiner äusseren Einflussnahme bei ihren wissenschaftlichen Einschätzungen und Empfehlungen ausgesetzt sind und kein Interesse daran haben, was bei einer Entscheidung herauskommt. Würde zum Beispiel eine Expertin an einem möglichen Standort für ein Tiefenlager wohnen, wäre das für ihre Unabhängigkeit ein Problem. Für ihre Unabhängigkeit ist es auch von Vorteil, wenn eine klare Distanz zu den politischen Entscheidungsinstanzen besteht.

Sind Experten neutral?
Die Wissenschaftsforschung ist sich einig, dass Neutralität in der Wissenschaft nicht möglich ist. Werturteile spielen immer mit. Welches Forschungsthema, welche Disziplin man wählt, hat mit Werturteilen zu tun. Ein Biodiversitätsforscher hat mit grosser Wahrscheinlichkeit andere Werteprioritäten als eine Nuklearphysikerin. Experten sind nur dann ehrliche Makler, wenn sie die eigenen Wertehaltungen auf den Tisch legen.

Zur Person
Caspar Hirschi, 1975 in Zürich geboren, ist Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die Organisation wissenschaftlicher Institutionen und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Geschichte und Gegenwart. Hirschi ist seit 2014 Mitglied im Evaluationsausschuss des Deutschen Wissenschaftsrats. Im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrats hat er mit anderen Autorinnen und Autoren Empfehlungen zur Wissenschaftlichen Politikberatung in Krisenzeiten erarbeitet. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beratungsgremium Covid-19 für den Bund und die Kantone.

Was bedeutet das konkret für Expertinnen und Experten, die beispielsweise geologische Gutachten für die Nagra erstellen?
Es wäre hilfreich, wenn die beteiligten Geologinnen und Geologen aufzeigen, wie die Geschichte und Gegenwart ihres Faches ihre Werteprioritäten prägen. Sie sollten auch thematisieren, dass die Geologie von der Erdbebenprävention bis zur Rohstoffförderung eng mit der Politik und Wirtschaft verbunden ist, und aufzeigen, wie sie dabei ihre Unabhängigkeit zu behaupten versucht. Wenn Experten selber offenlegen, wie sie mit möglichen Einflüssen auf ihre Arbeit umgehen und ihre wissenschaftliche Selbstständigkeit schützen, dürfen sie auch mit mehr Verständnis aus der betroffenen Bevölkerung rechnen.

Das würde aber auch heissen, dass sich Experten immer wieder selber hinterfragen müssen, ob sie – bewusst oder unbewusst – eine politische oder wirtschaftliche Agenda verfolgen.
Ja, das gehört dazu. Und vielleicht brauchen sie dafür wiederum den Rat von Expertinnen und Experten. Ich würde dafür plädieren, dass man gerade langfristige Projekte wie den Bau eines Tiefenlagers durch Wissenschaften wie Soziologie oder Politikwissenschaft begleitet. Diese Disziplinen beschäftigen sich genau mit solchen Themen, etwa der Frage, wie die Akzeptanz von wissenschaftlicher Langzeitberatung hergestellt wird, und wie sich involvierte Expertinnen selber wahrnehmen. Durch so eine Begleitung setzt man sich sozusagen einer wissenschaftlichen Beobachtung zweiten Grades aus.

Wer definiert überhaupt, wer eine Expertin ist?
In den Wissenschaften sagen oft die Fachgesellschaften, wer die führende Stimme in einer bestimmten Disziplin ist. Wenn wir aber schauen, wie wissenschaftliche Beratung funktioniert, bestimmt letztlich die Instanz, die Entscheidungen treffen muss, wer Expertin ist. Experte wird man erst, wenn Laien mit Entscheidungsbefugnis an andere Personen herantreten und um Rat fragen. Vorher ist man Spezialist und bewegt sich in der Fachcommunity. Die Politik muss ihre Entscheide öffentlich legitimieren. Deshalb hat sie natürlich ein grosses Interesse daran, Leute auszuwählen, die in der Forschungsgemeinschaft eine hohe Anerkennung geniessen.

Reicht Fachwissen aus, um ein guter Experte zu sein?
Expertise beschränkt sich nicht auf die Vermittlung von Fachwissen. Es geht auch um eine Übersetzung der Fachsprache in eine Laiensprache, sodass Laien, die entscheiden müssen oder von Entscheiden betroffen sind, nachvollziehen können, worum es geht. Diese Fähigkeit lernt man «on the job». Es gibt keine Ausbildung zum «Experten», man wird meist ins kalte Wasser geworfen.

Corona, 5G, Ukraine, Atomenergie: Bei diesen Themen sind sich auch Experten nicht immer einig. Was löst die Uneinigkeit in der Bevölkerung aus?
Dissens in der Wissenschaft wurde in der Öffentlichkeit vor allem in der Pandemie als Problem wahrgenommen. Dabei haben allerdings auch die Medien eine unglückliche Rolle gespielt – insbesondere in Deutschland – indem sie einzelne Experten gegeneinander ausgespielt haben. Es ist wichtig, genau hinzuschauen: Worin besteht die Uneinigkeit der Experten? Geht es um wissenschaftliches Wissen? Um eine Risikoeinschätzung? Oder ist es letztlich eine politische Frage: Beispielsweise, was man der Bevölkerung in einer bestimmten Region zumuten kann oder nicht. Wissenschaftlicher Dissens ist legitim und normal. Es ist wichtig, der Bevölkerung zu kommunizieren, dass das Austragen von Streitfragen ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Prozesses ist. Politisch gesehen gibt es viele Themen, bei denen der Dissens, der durch die Bevölkerung geht, auch mitten durch die Wissenschaft geht – dazu gehört etwa die Atompolitik. Bei diesen Themen ist die Polarisierung so stark, dass die Wissenschaft nur bedingt eine orientierende Funktion erfüllen kann.

Wie sind Sie selber zum «Experten für Experten» geworden?
Auch bei mir wars ein Sprung ins kalte Wasser. Meine ersten Schritte habe ich als wissenschaftlicher Aktivist für eine akademische Karrierereform gemacht. Ich kam als junger Historiker aus England zurück, war über die starren Hierarchien an der ETH konsterniert und habe mich dann in den Medien für eine akademische Karrierereform an Schweizer Universitäten eingesetzt. Dank des medialen Echos erhielt ich rasch Zugang zur Politik, musste aber bald auch lernen, dass ich in meiner Rolle als direkt betroffener Aktivist wenig bewegen konnte. Parallel dazu habe ich angefangen, zur Geschichte der wissenschaftlichen Expertise zu forschen. Damals ahnte ich noch nicht, wie wichtig dieses Thema wegen der vielen Krisen werden würde, aber als eine nach der andern kam, wurde ich von Medien und der Politik regelmässig angefragt, als «Experte für Experten» zur Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung Stellung zu nehmen. So kam ich zu diesem seltsamen Titel.

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