Ein Portraitfoto der Ethikerin Anna Deplazes Zemp.

Rückholbarkeit: Der schmale Grat zwischen Selbstbestimmung und Lastübergabe


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Frau Deplazes, der radioaktive Abfall muss in der Schweiz so eingelagert werden, dass er wieder zurückgeholt werden kann. Das verlangt das Gesetz. Ist diese Rückholbarkeit auch ethisch geboten?

Ich denke ja, dafür gibt es gute Argumente. Für mich ist das stärkste Argument, dass man mit der Rückholbarkeit die Entscheidung, die Abfälle im Tiefenlager zu lassen, nochmals auf einige weitere Generationen ausdehnt, und auch diesen Generationen eine Mitbestimmung zu dieser wichtigen Frage ermöglicht. Dazu kommt natürlich der Sicherheitsaspekt, dass man die Abfälle zurückholen könnte, falls sich etwas Unerwartetes entwickeln sollte. Es gibt aber durchaus auch ethische Positionen (Utilitarismus), die darauf fokussieren, dass man offen bleiben muss für die Möglichkeit, dass der Abfall eines Tages weiterverwertet werden könnte und damit Probleme reduziert und Vorteile geschaffen werden könnten.

 

Mit der Rückholbarkeit lässt man zukünftigen Generationen alle Optionen offen: Falls sie wollen, können sie den Abfall zurückholen. Falls sie das nicht wollen, verschliessen sie das Lager. Optionen offen lassen: Das kann doch ethisch nicht falsch sein, könnte man meinen.

So einfach ist es nicht. Einerseits kann man argumentieren, dass wir zukünftige Generationen an der Entscheidung beteiligen sollen, was mit dem Abfall geschehen soll. Andererseits schieben wir ihnen damit aber auch einen Teil der Verantwortung zu. Falls sich die Entscheidung langfristig als falsch herausstellen sollte, wären zukünftige Generationen «mitschuldig». Zudem tragen sie im Zeitraum, in dem das Lager nicht verschlossen ist, die Verantwortung für die Wartung und Kontrolle.

 

Das bedeutet: Wir können nicht volle Verantwortung für den Abfall übernehmen und gleichzeitig maximale Entscheidungsfreiheit für zukünftige Generationen sicherstellen.

Beidem gleichzeitig vollends Rechnung zu tragen ist schwierig. Das Schweizer Konzept sieht vor, dass die Rückholung bis zum Verschluss des Lagers mit verhältnismässig kleinem Aufwand möglich ist. Nach dem Verschluss ist und bleibt das Lager passiv sicher, das heisst ohne menschliches Zutun – die Menschen müssen keine Verantwortung mehr tragen für Wartung und Kontrolle.

Nach dem Verschluss können die Abfälle aber immer noch zurückgeholt werden, allerdings mit grösserem Aufwand. Wenn zukünftige Generationen diese Entscheidung treffen wollen – etwa, weil sie den Abfall weiterverwenden wollen – können sie das tun, müssen aber auch den Aufwand und die Verantwortung für diese Entscheidung tragen. Für mich ist das ein schlüssiger Umgang mit den Zielkonflikten.

Zur Person:

Anna Deplazes Zemp ist als Ethikerin Mitglied des Beirats Entsorgung. Sie hat Molekularbiologie studiert und in Biochemie promoviert bevor sie ein Zweitstudium in Philosophie abgeschlossen hat. Seit vielen Jahren arbeitet sie in den Bereichen Technikethik und Umweltethik. Sie ist seit diesem Jahr Lecturer für Ethik und Philosophie der Biologie im Fachbereich Biologie an der Universität Zürich.

 

Wie unterscheidet sich eine ethische Betrachtung der Rückholbarkeit von einer technisch-wissenschaftlichen Perspektive?

Die beiden Perspektiven hängen zusammen und können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Bei der technischen Perspektive geht es mehr um Möglichkeiten, Chancen und Gefahren. Man fragt: Was ist möglich und wie setzt man es um? Bei der ethischen Betrachtungsweise geht es um die Fragen: Sollen wir das, was möglich ist tun, und aus welchen Gründen? Dabei gibt es, wie vorher erwähnt, unterschiedliche Argumente, die sich teilweise gegenseitig bestärken, oft aber auch widersprechen. In der Ethik führen wir dann die Diskussion zu diesen Argumenten. Dabei kann man nicht alleine auf Experimente und Zahlen zurückgreifen, vielmehr hängen ethische Argumente vor allem damit zusammen, welche Prinzipien, Werte oder Ziele man wie gewichtet und interpretiert. Deshalb gibt es zu den meisten Fragen unterschiedliche ethische Positionen. Zentral ist, dass man transparent begründen kann, wie man zu einer Empfehlung kommt. Für die konkrete Entscheidung muss aber die Gesellschaft und Politik bestimmen, welche Argumente sie überzeugen, wo sie die Schwerpunkte legen möchten. Oft führt das zu einem Kompromiss, in dem unterschiedliche Positionen miteinbezogen werden.

 

Wie würden Sie den Schweizerischen Umgang mit der Rückholbarkeit gesamthaft einschätzen: Ethisch korrekt oder nicht?

Wie gesagt gibt es in der Ethik immer verschiedene Positionen. Ich persönlich finde den Schweizer Ansatz richtig: Ziel ist, das Lager eines Tages endgültig zu verschliessen, und damit zukünftigen Generationen keine Lasten des Monitorings und der Kontrolle aufzubürden. Wir haben aber auch eine Flexibilität, weil es zuerst eine Beobachtungsphase gibt, während der die Abfälle relativ einfach rückholbar sind. Wir sind also auch für den Fall der Fälle gerüstet, dass etwas anders läuft als geplant. Dass die Rückholung gesetzlich gefordert ist, entspricht zudem einem starken gesellschaftlichen Wunsch. Im Sinne der gesellschaftlichen Mitbestimmung ist es ethisch wichtig, dass diesem Wunsch Rechnung getragen wird.

 

Das Gesetz sieht vor, dass der Bundesrat den Verschluss verfügt, ein verbindlicher Verschlusstermin ist nicht festgelegt. Die Nagra plant eine 50-jährige Beobachtungsphase vor dem Verschluss. Wie bestimmt man aus ethischer Sicht den richtigen Zeitpunkt für den Verschluss?

Auch bei dieser Frage spielen die erwähnten Zielkonflikte zwischen Selbstbestimmung zukünftiger Generationen und der Verantwortung jener Generationen, welche den Abfall verursacht haben, eine Rolle.

Man muss aber natürlich auch die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in den nächsten fast 100 Jahren in die Entscheidung einfliessen lassen. Wie sieht es mit den technischen und finanziellen Möglichkeiten jener Generationen aus? Müssen sie sich um andere Probleme – zum Beispiel Folgen des Klimawandels – kümmern und sind froh, wenn sie für das Tiefenlager keine Verantwortung mehr tragen? Vor dem Hintergrund all dieser Unsicherheiten scheint mir eine Flexibilität zum Zeitpunkt des Verschlusses sinnvoll.

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