Es ist kühl, etwa 13 Grad. So kühl sei es hier drinnen immer, wurde mir gesagt. Egal, ob draussen im Hochsommer die Sonne auf die Erde knallt und die Leute in kurzen Hosen und Sandalen über die Strassen schlendern oder ob draussen der Winter wütet und der Wind den Spaziergängern um die Ohren pfeift. Hier drinnen ist die Temperatur konstante 13 Grad. Etwa so, wie an einem regnerischen Herbsttag. Doch hier drinnen ist kein Herbst. Kein Rascheln der Blätter ist zu hören, kein Regenprasseln, nur die Stimmen der anderen Laborbesucherinnen und -besucher. Das Licht ist kühl. Links und rechts von mir erstrecken sich zwei fast identische lange Stollen.
Über uns liegen 300 Meter Berg. Wir stehen mitten im Opalinuston des Mont Terri. In diesem tonhaltigen Gestein soll das Tiefenlager dereinst gebaut werden.
Was ist, wenn jetzt mein Kreislauf versagt? Wenn wir uns verirren? Doch es wird schon alles gutgehen, sage ich mir, schliesslich sind all die Besucher vor mir auch heil wieder rausgekommen. Die Notausgang-Schilder, Not-Telefone und Feuerlöscher wirken professionell. Um meinen Hals baumelt ausserdem ein Kästchen, eine Art Sender, mit dem ich geortet werden kann, sollte ich vom Gestein so fasziniert sein, dass ich mit offenem Mund stehenbleibe und verloren gehe, während der Rest der Gruppe längst weitergezogen ist. Und die zwei Sicherheitsleute, die mit dabei sind, zeigen sich – im Moment zumindest noch – ganz entspannt.
Klar ist: So schnell komme ich hier nicht raus. Natürlich nicht, schliesslich ist die entscheidende Eigenschaft des Opalinustons, dass er alles einschliesst – sei es nun Atommüll oder Menschen. Denke ich an die radioaktiven Abfälle, habe ich sogar richtig Glück, nur eine Stunde hier unten bleiben zu müssen. Der Müll soll für eine Million Jahre im Untergrund eingeschlossen werden. Diese Zeitspanne kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie sieht die Welt dann aus? Werden überhaupt noch Menschen leben?
Auch wenn wir das heute nicht wissen können, hier unten hat es sowieso kaum Bedeutung. Seit 175 Millionen Jahren hat sich der Opalinuston praktisch nicht verändert. Während an der Oberfläche das Wetter, das Fernsehprogramm oder meine Stimmung innert Minuten umschlagen, steht die Zeit hier unten still. Wider Erwarten sind kaum Forschende vor Ort. Heinz Sager, Public-Affairs-Manager der Nagra erklärt, dass viele der Experimente die meiste Zeit in Ruhe gelassen werden müssen. Über Jahrzehnte hinweg werden sie periodisch geprüft und liefern neue Erkenntnisse. «Das Felslabor ist ein Spiegel der Ruhe, der langen Zeit. Das gilt sowohl für die Experimente als auch für das Gestein», sagt Sager. «Im Felslabor vermeiden wir Stress. Wir arbeiten lieber etwas langsamer, dafür umso sorgfältiger. So passieren weniger Fehler.»
Über mich
Als Praktikantin in der Kommunikation bin ich seit Anfang Dezember 2023 bei der Nagra tätig. Während zwei Wochen habe ich mich intensiv ins Jahrhundertprojekt eingelesen. Mit diesem – immer noch wenigen – Wissen durfte ich bei einer Besucherführung im Felslabor dabei sein.
Ich lasse mir die Zahlen noch einmal durch den Kopf gehen. Der Opalinuston existiert schon seit 175 Millionen Jahre. Nun soll er den Atommüll für eine Million Jahre einschliessen. So betrachtet, kommt mir der Zeitraum von einer Million Jahren plötzlich gar nicht mehr so lange vor. Andererseits: Von Atomstrom profitieren wir nun seit etwas mehr als 50 Jahren und voraussichtlich nicht mehr allzu lange. Ein Brennelement ist bis zu fünf Jahre im Einsatz, bevor es ersetzt werden muss. Danach lagert dieses für etwa 40 Jahre im Zwischenlager, bis es unter die Erde kommen soll. Noch nie in meinem Leben habe ich mich mit so gewaltigen Zeiträumen beschäftigt, fällt mir auf.
Vor uns zeigt ein massstabgetreues Modell, wie die Abfälle später eingeschlossen werden sollen. Spektakulär ist es nicht: dünne Brennstäbe sind zu Bündeln angeordnet, umschlossen von einem dickwandigen Stahlbehälter. Der Hohlraum zwischen dem Stahlbehälter und der Stollenwand wird mit Bentonit verfüllt, einem tonhaltigen Material, in dem radioaktive Teilchen gewissermassen kleben bleiben. Erst nach mehreren tausend oder gar zehntausend Jahren werden die ersten radioaktiven Teilchen die ersten zwei Barrieren – den Stahlbehälter und die Stollenverfüllung – überwinden. Und dann erst treffen sie auf die wichtigste Barriere: die hundert Meter dicke Schicht Opalinuston, die den Abfall hunderttausende von Jahren zurückhalten wird.
So simpel das Modell aussehen mag, der Bau des Tiefenlagers wird wohl komplizierter sein. Vieles gelte es zu bedenken, erklärt Sager. «Das beginnt schon bei der Beschriftung des Tiefenlagers.» Auch darüber müssen sich Planer und Technikerinnen bereits heute Gedanken machen. Wie markieren wir das Lager, damit es auch für unsere Nachfolgerinnen verständlich bleibt?
Danach ist unser Rundgang im Felslabor schon vorüber. Rückblickend ist die Stunde viel schneller vorbeigegangen als erwartet. Trotzdem bin ich froh, wieder auf gewohntem Boden zu stehen. Und anders als im Untergrund, hat sich hier oben bereits etwas verändert: Ein paar Wolken haben sich verzogen und die Sonne steht nun tiefer am Himmel.