Serie: Jahrhundertprojekte der Schweiz
Die Schweiz kann Jahrhundertprojekte. Das ist spätestens seit dem Bau des Gotthardtunnels auf der ganzen Welt bekannt. Auch das Tiefenlager für unseren Atommüll ist ein Jahrhundertprojekt. Doch es gibt noch viele weitere. Kleinere, grössere, manchmal auch skurrile. In dieser Serie stellen wir sie vor.
Teil 3 der Mini-Serie zum Gotthard: Interview mit Peter Tresch, Gemeindepräsident von Göschenen.
Herr Tresch, können Sie sich ein Göschenen ohne den Gotthard vorstellen?
Der Gotthard ist ein Mythos. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne diese wundervolle Umgebung mit den Bergen zu leben. Man ist auch stolz, ein Teil von diesem Mythos Gotthard zu sein.
Wollten Sie wegen oder trotz der Grossbaustelle Gemeindepräsident von Göschenen werden?
Ich war 2018/2019 Landratspräsident und damit höchster Urner. Ich bin ehrlich: Als ich nach einem Jahr wieder vom «Bock» runter musste, mich wieder in die hintere Reihe gesetzt habe, war das nicht mehr dasselbe. Da habe ich mir gedacht, dass ich vielleicht irgendwann Gemeindepräsident von Göschenen werden könnte.
Als aber 2020 der damalige Gemeindepräsident abtrat, gab es bereits eine Kandidatin aus dem Gemeinderat. Für mich war das Thema eigentlich schon erledigt, als ein schriftlicher Wahlvorschlag mit meinem Namen drauf einging. An der Wahlvorveranstaltung sagte der Herr, der mich vorgeschlagen hatte: Wenn die Baustelle kommt, dann müsse jemand übernehmen, der hinsteht, der auch mal «ausrufen» kann. Für das kannte man den Tresch halt.
Ich war nicht erpicht auf einen Wahlkampf und im zweiten Wahlgang hätte ich mich zurückziehen können. Aber den gab es nicht mehr. Das Ergebnis sprach klar zu meinen Gunsten und da spürte ich, dass die Leute mich in dieser Funktion wollen. Vor allem wegen der Baustelle.
Die Baustelle war also schon damals das grosse Thema im Dorf?
Ja. Ich spüre es auch jetzt, es hat manchmal etwas von David gegen Goliath. Deshalb hatten die Bürger vielleicht das Gefühl, wenn wir schon nur den David haben, dann wenigstens den Schlitzohr-David. Ich habe zwölf Jahre im Landrat politisiert und war Landratspräsident. Da weiss man, wie die Dinge laufen.
Zur Person
Peter Tresch wurde Ende 2020 Gemeindepräsident von Göschenen. Von 2008 bis Frühling 2020 war er Landrat und 2018/2019 für ein Jahr Landratspräsident und damit höchster Urner.
Tresch ist in Silenen aufgewachsen und lebt seit 30 Jahren in Göschenen. Der gelernte Mechaniker ist Kraftwerksleiter im Kraftwerk Göschenen, verheiratet und Vater zweier erwachsener Töchter.
Wie wird Ihre Gemeinde in das Projekt einbezogen?
Ich würde sagen, wir haben es sehr gut. Es gibt in diesem Projekt eine technische Begleitkommission und eine politische Begleitkommission. Dann gibt es einen Austausch, den wir selbst ins Leben gerufen haben, damit wir uns regelmässig mit dem Bauherr treffen können. Diese Treffen finden monatlich statt.
Dort werden wir informiert, was als Nächstes vorgesehen ist und wir können unsere Anliegen einbringen. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis mit dem Bundesamt für Strassen ASTRA und auch mit den Bauunternehmungen.
Sie fühlen sich ernstgenommen, wenn Sie Ihre Anliegen platzieren?
Absolut. Manchmal muss man die Ellbogen ausfahren, das gehört dazu. Das ASTRA ist ein grosser Fisch, der Goliath. Sie haben das Projekt ausgearbeitet. Das macht es manchmal schwierig, aber man darf keine Ohnmacht aufkommen lassen. Dann klopft man halt mal auf den Tisch und sagt: Meine Herren, so nicht!
Wie sieht Ihre Rolle als Gemeindepräsident in diesem Projekt aus?
Als Gemeindepräsident ist man der Schinken im Toast. Man weiss, die demokratische Entscheidung lautet: Wir bauen eine zweite Röhre. Auf der anderen Seite ist der Bürger. Nicht alle sind glücklich mit dieser Baustelle, das wissen wir.
Einige hätten es lieber, dass man mit dem ASTRA auf Konfrontation geht. Aber man muss auch klar sagen: Es gibt Spielregeln. Das Projekt lag auf, viele Details wurden schon vor langer Zeit definiert, und wenn das jemandem erst auffällt, wenn die erste Baumaschine läuft, dann ist es definitiv zu spät.
Trotzdem müssen Sie auch diese Anliegen ernst nehmen.
Das tun wir auch. Mir gegenüber sitzen immer Steuerzahler, das darf man nicht vergessen. Im Privaten kannst du davonlaufen, wenn du mit dem Gegenüber nicht einverstanden bist. Als Gemeindepräsident geht das nicht.
Aber es gibt immer Menschen, die sich nicht ernstgenommen fühlen. Die sagen, der Gemeindepräsi sei sowieso auf der Seite der anderen. Deshalb haben wir noch eine zusätzliche Ombudsstelle eingesetzt, bei der sich alle melden können.
Wie würden Sie denn die generelle Stimmungslage in der Bevölkerung in Bezug auf die Baustelle beschreiben?
Es ist vielleicht etwas ketzerisch ausgedrückt, aber: Die Göschener nehmen das Projekt zur Kenntnis. Oft höre ich den Satz: Wir leben damit.
Den anderen sage ich: Die Menschen, die am Freitagabend um sieben Uhr Lärm machen, die würden auch lieber zuhause grillieren und ein Bier trinken. Wir wissen es aus der Tell-Saga: ‘Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein anderer Weg dorthin. Hier muss der Tunnel in den Berg, es führt kein anderer Weg nach Airolo. Wir sprechen von einem milliardenschweren Bauprojekt. Das kann man nicht realisieren, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.
Fehlt manchmal auch das Know-how, um gewisse Dinge zu beurteilen oder zu erklären?
Ja, klar. Als Laie: Was ist Lärm? Wieviel ist zu viel? Da brauche ich Spezialisten, das kann ein Gemeindepräsident nicht beurteilen.
Zur Problematik mit den Immissionen: In Silenen hätten sie schon gewusst, dass der «Schochen» stäubt, wenn der Föhn weht (Anmerkung der Redaktion: Ein Schochen ist ein Heuhaufen, wird umgangssprachlich in Uri aber für einen Haufen Steine, in anderen Regionen generell für das Wort Haufen verwendet). Das Aushubmaterial hat in Silenen gestäubt und es stäubte in Göschenen wieder. Dieses Projekt ist halt ein bisschen grösser als ein Gartenhüsli.
Es ist aber auch ein Problem von uns Urnern – oder vielleicht generell bei Grossprojekten –, dass man sich zu wenig helfen lässt. Man fragt nicht gerne nach. Aus Erfahrung kann ich sagen: Es hilft, das Telefon in die Hand zu nehmen und bei Amtskollegen nachzufragen. Es gibt andere Gemeindepräsidenten, die ähnliche Herausforderungen zu meistern hatten.
«Man darf keine Ohnmacht aufkommen lassen.»
Peter Tresch, Gemeindepräsident Göschenen
Sie haben den Lärm angesprochen: Was sind generell die grössten Herausforderungen, die es zu meistern gibt?
Die Immissionen. Lärm und Staub, während den Sprengarbeiten auch Erschütterungen. Wir leben in einem engen Tal und waren es uns gewohnt, dass du am Abend den Fuchs husten hörst.
Zuvor war immer die Rede vom verschlafenen Bergdorf und vom Dorf im Dornröschenschlaf. Als die Baustelle kam, haben vor allem Ältere zu mir gesagt, nun laufe endlich wieder mal was im Dorf.
Dann gibt es auch positive Effekte?
Ja, die gibt es und sie werden oft verkannt. Wir haben einen Dorfladen, der enorm profitiert. Wer weiss, ob Göschenen ohne die Baustelle überhaupt noch einen eigenen Dorfladen hätte?
Wir haben wunderbare Unterkünfte erhalten und eine schöne Kantine, die ich architektonisch wundervoll finde. Volkswirtschaftlich gesehen ist es super, dass eine Schweizer Firma den Zuschlag für den Hauptauftrag erhalten hat. Für unsere Gemeinde ist es hingegen etwas bitter, denn das bedeutet weniger Quellensteuern. Da wurde uns im Vorfeld vielleicht etwas zu viel versprochen.
Die Tunnelarbeiter spüren wir gut im Dorf und das ist sensationell. Der Berner Oberländer Sprengmeister spricht die gleiche Sprache wie wir, auf der Strasse grüsst man sich. Das ist schön und dem wollen wir Sorge tragen. Mit den Arbeitern hatten wir noch keine Probleme, sie sind gut ins Dorf integriert.
Irgendwann wird der Berner Oberländer Sprengmeister wieder weg sein. Und mit ihm der Lärm, der Staub und die Arbeit. Ziehen die Jungen dann weg und Göschenen schläft wieder ein?
Das ist ein Szenario, das wir vom Gemeinderat im Hinterkopf haben. Wie sieht unser Dorf im Jahr 2032 aus? Wir sind uns dessen bewusst, es wird Veränderungen geben.
Was die Jungen angeht: Die Göschenerälpler sagen jeweils, sie hätten Wurzeln bis zur Hölle hinunter. Nichts und niemand bringe sie von hier weg. Man müsste als Einheimischer die Vorteile eigentlich sehen. Es gibt wohl so etwas wie eine Betriebsblindheit, die auch die Jungen betrifft: Man ist schon lange hier und kennt nichts anderes, dass man all die Annehmlichkeiten nicht mehr wahrnimmt.
Aber schauen Sie hier zum Fenster raus: Göschenen ist wunderschön!
Aber wenn es keine Arbeitsplätze gibt, wird es schwierig.
Das wird häufig moniert und stimmt so pauschal nicht. Ich kenne das von unserem Kraftwerk: Wir haben dreizehn Monate lang einen Elektriker gesucht.
Im Herbst hatten wir sogar drei Stellen zu besetzen. Niemand aus dem unmittelbaren Umkreis hat sich beworben. Es ist klar: Wenn jemand Glaziologe studiert, dann findet er in Göschenen keinen Job. Aber Handwerker können wir immer brauchen.
Teil 2 unserer Gotthard-Serie: Wir beleuchten einige der sogenannten Ausgleichsmassnahmen der Baustelle «Zweite Röhre Gotthard»
Was haben Sie denn für eine Vision für «Ihr» Dorf?
Ich habe bei meinem Amtsantritt klargemacht: Göschenen ist nicht der Türvorleger von Andermatt. Göschenen darf nicht zum Täsch von Andermatt werden!
(Anmerkung der Redaktion: Die Walliser Gemeinde Täsch liegt vor Zermatt und beherbergt das Matterhorn-Terminal mit über 2000 Parkplätzen. Viele in Zermatt beschäftigte Gastarbeiter wohnen wegen der niedrigeren Mieten in Täsch).
Ich habe mich erkundigt, was in Täsch falsch gelaufen ist. Gute öV-Anbindung, gute Gastronomie, viele Geschäfte und Ferienwohnungen, eine gute Infrastruktur. Haben die nicht alles? Die Antwort lautete: Unsere Kultur geht verloren. In der Schule werde mehr portugiesisch gesprochen als Walliserdeutsch. Was man ehrlich sagen muss: Die Kultur machen nicht die anderen kaputt, sondern wir selbst. Die Jungen gehen nicht mehr in den Dorfverein und an die Kilbi. So geht halt Vieles verloren.
Aber zurück zur Vision. Auf einem alten Prospekt steht die Wahrheit: Göschenen, das Tor zum Süden. Ja, wir sind das Tor zum Süden und kein verschlafenes Tunneldorf.
Eine Unterkunft wird bleiben und kann dank modularer Bauweise in unterschiedlich grosse Wohnungen aufgeteilt werden. Auch Alterswohnungen wären möglich. Eine unserer Visionen ist, dass wir einen Teil davon als Jugendherberge umnutzen. Das gibt uns Perspektiven.
Eine Chance sehen wir zum Beispiel auch bei den nach Süden Reisenden.
Inwiefern?
Niederländer und Deutsche bleiben öfter hier hängen als man denkt. Die Niederländer sagen, sie planen diese Wartezeit vor dem Gotthard ein. Sie waren zuvor sechs, sieben Stunden unterwegs, diese Pause kommt ihnen gelegen – wie Schwalben, die auf ihrer Reise nach Süden eine Rast einlegen.
Wenn wir diesen Menschen mit Freundlichkeit und Weitsicht begegnen, können alle profitieren. Die sagen uns: Wenn ich gewusst hätte, wie schön es in der Göscheneralp ist, wäre ich ein paar Tage länger geblieben. Wir haben auch viele Kletterer hier. Da schläft halt mal einer im Zelt. Auf den müssen wir doch nicht gleich mit der Mistgabel los! Wir müssen diesen Menschen Sorge tragen. Wenn es ihm gefällt, übernachtet er das nächste Mal in der Jugendherberge.
Daran müssen wir noch arbeiten. In die grosse Tourismus-Liga werden wir es nie schaffen. Klein, aber fein soll es sein. Die Göscheneralp soll ein Nischenprodukt bleiben, denn sie ist eine Perle. Und die verliert an Glanz, wenn dort hinten nur noch Autodächer in der Sonne glitzern.
Wie geht es mit der Baustelle weiter?
Der Hochbetrieb wird circa im Jahr 2025 herrschen. Dann erwarten wir rund 170 Arbeiterinnen und Arbeiter hier. Unter Louis Favre vor 125 Jahren waren es über Tausend. Und beim Bau des Strassentunnels vor 50 Jahren auch mehrere Hundert.
Göschenen hat zwei Grossbaustellen überlebt, es wird auch diese gut überstehen. Übrigens: Beim letzten Mal hat man von den Einnahmen aus der Quellensteuer ein Hallenbad gebaut. Das war ein totaler Reinfall. Aber aus vergangenen Fehlern kann man bekanntlich lernen.
Nicht nur Schwarz und Weiss
Jahrhundertprojekte haben viele Nebenwirkungen. Längst nicht alle sind angenehm, wie diese Serie zeigt. Eine Baustelle braucht Platz, Ressourcen und kann Lärm verursachen. Unser Besuch in Göschenen hat aber auch gezeigt: Werden die Betroffenen ernstgenommen und früh genug in das Projekt miteinbezogen, dann bringt ein Projekt auch Chancen mit sich.