Göschenen, das Gotthardtunneldorf.

Stau(b) am Gotthard


Heute vor zwei Jahren erfolgte der Spatenstich zur Zweiten Röhre. Welche Auswirkungen hat diese Grossbaustelle auf Göschenen? Wir haben das Tor zum Süden besucht.

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Serie: Jahrhundertprojekte der Schweiz

Die Schweiz kann Jahrhundertprojekte. Das ist spätestens seit dem Bau des Gotthardtunnels auf der ganzen Welt bekannt. Auch das Tiefenlager für unseren Atommüll ist ein Jahrhundertprojekt. Doch es gibt noch viele weitere. Kleinere, grössere, manchmal auch skurrile. In dieser Serie stellen wir sie vor.

Heute starten wir unsere Mini-Serie mit der Baustelle «Zweite Röhre Gotthard» in Göschenen.  

Die Mutter aller Jahrhundertprojekte. Schweizer Schicksalsberg. Mythos.

Um den Gotthard ranken sich die unglaublichsten Geschichten. Vor 150 Jahren hat mit Ingenieur Louis Favre alles begonnen. Böse Zungen würden sagen, im Jahr 2023 endet es 16 Kilometer vor dem Tunnel in einer Blechlawine.

Tatsächlich hören wir vom Gotthard meistens im Radio – in Zusammenhang mit Stau. Doch dieser Berg sorgt auch sonst immer wieder für Schlagzeilen, zieht die Medien magisch an. Selbst dann, wenn alles ruhig und nach Plan verläuft. Der im August entgleiste Güterzug und die Schäden an der Tunneldecke im September machen uns bewusst, was passieren kann, wenn für einmal nicht alles nach Plan verläuft.

Wir haben uns just am Tag des Unfalls in Göschenen auf Spurensuche gemacht. Nicht wegen des Unfalls, dessen Ausmasse an diesem Tag noch nicht bekannt waren. Sondern wegen der Baustelle. Der dritten, mit der Göschenen, das Tor zum Süden, klarkommen muss.

Letztes Mal gingen die Quellensteuern baden

«Da stand die Bausünde Hallenbad», bemerkt Fredy Furger auf dem Baustellenrundgang und lacht, während er mit dem Finger auf die Mehrzweckhalle zeigt. Furger ist im Göschener Verkehrsverein und arbeitet auf Abruf für das Infozentrum, welches durch das ASTRA finanziert wird. Es gibt je eines in Göschenen und Airolo.

Von der Baustelle sieht man auf dem Baustellenrundgang wenig, es ist eher ein Dorfrundgang. Aber Furger, ein echtes Original, weiss viel zu erzählen. Gelegentlich kramt er eine runde Dose hervor, verteilt braunes Pulver auf dem Handrücken und zieht den Schnupftabak die Nase hoch.

Das ehemalige Hallenbad erwähnte schon Gemeindepräsident Peter Tresch beim Interview am Vormittag (erscheint nächste Woche): Gebaut wurde es in den 1970er-Jahren mit den Einnahmen aus den Quellensteuern, die durch den Bau des Gotthard-Strassentunnels in die Gemeindekasse gespült wurden. Das Geld hätte nach Meinung von Tresch und Furger besser investiert werden können. Der Betrieb des Hallenbads wurde bereits nach 18 Jahren eingestellt, danach wurde es als Aula genutzt. Ein Hallenbad für ein 460-Seelen-Dorf war wohl nicht ganz angemessen. Es entstanden Folgekosten, inzwischen ist die «Bausünde» einer Mehrzweckanlage gewichen.

Mit Fredy Furger im Untergrund: Der Rundgang führt ganz zu Beginn durch einen alten Stollen.

Keine zwei Meinungen beim Staub

Fredy Furger grüsst alle, denen wir begegnen. Man kennt sich im Dorf. Zur Baustelle gebe es unterschiedliche Meinungen, die meisten würden es so akzeptieren, wie es ist. Nur einmal, da regte sich auch Furger auf: «Der Staub», sagt er und führt mit dem Zeigfinger eine Wischbewegung aus. «Als es sehr trocken war, wirbelte der Talwind viel Staub vom Zwischenlagerplatz auf.» Das ganze Dorf wurde in eine Staubwolke gehüllt. «Du hast gerade geputzt und schon lag wieder eine Staubschicht auf dem Fenstersims. Das war schlimm und hat die Bevölkerung verärgert.»

Auf die Beschwerden hin wurden Gegenmassnahmen versprochen. Diese liessen jedoch auf sich warten oder waren nicht effektiv. Furger nennt als Beispiel eine Art Schneekanone, die Wasser über das trockene Aushubmaterial sprühte. «Aber das nützte nicht viel. Sie sagten, zu nass dürfe das Material auch nicht sein, weil es sonst Probleme mit dem Förderband gebe». Er zuckt mit den Schultern.

Um die Bevölkerung in das Projekt miteinzubeziehen, gab es im Vorfeld zahlreiche Informationsanlässe. «Fast zu viele», ergänzt Furger. Wichtig sei jeweils der zweite Teil gewesen. «Beim Apéro kommt man mit vielen Leuten ins Gespräch, auch mit den Projektverantwortlichen.» Dieser Austausch sei sehr wertvoll. Da könne man die Fragen stellen, die einen wirklich interessierten.

Mehr als die Baustelle störe ihn der Stau vor dem Gotthard, sagt Furger. «Wenn sich alles staut, dann sind wir die Leidtragenden», sagt er. «Da fehlt das Verständnis uns Dorfbewohnern gegenüber.» Die einzige Kritik, die er sonst noch äussert, betrifft die Ausgleichsmassnahmen, die er uns vor dem Rundgang im Infozentrum präsentiert hat. In Airolo nämlich wird der Autobahnanschluss überdeckt und aufgewertet. Auch Sicht- und Lärmschutz sind ein Teil dieser Massnahme. «Airolo hat wohl besser verhandelt als wir.»

«Beim Apéro kommt man mit vielen Leuten ins Gespräch»: Für Fredy Furger waren die Gespräche nach dem offiziellen Teil der Informationsanlässe fast noch wichtiger.

1882 lässt grüssen

Infozentrum und Rundgang können sowohl in Göschenen als auch in Airolo selbständig besichtigt werden (siehe Info unten). Sich für eine Führung anmelden lohnt sich jedoch. Ein Rundgang mit einem lokalen Guide wie Fredy Furger ist mehr als nur ein Baustellenrundgang. Es ist ein Eintauchen in die Göschener Kultur und Geschichte.

Gemäss Furger seien die Führungen bei Schulklassen beliebt, auch Firmenausflüge landeten oft hier. «Manchmal ist sogar jemand dabei, der vor fünfzig Jahren auf der Baustelle gearbeitet hat. Dann bin ich derjenige, der zuhört und lernt», sagt Furger und lacht. Keine Führung sei wie die andere, weil je nach Zusammensetzung der Gruppe ganz andere Interessen im Vordergrund stünden. Das mache diese Rundgänge auch für ihn spannend.

Er verabschiedet sich dort, wo unsere Führung begann: im Infozentrum am Bahnhof. Der Ausstellungsraum befindet sich im alten Bahnhofbistro, wo die Originaldecke von 1882 erhalten wurde. Sie gibt dem Raum einen besonderen Charme – und hielt sich deutlich länger als das ehemalige Hallenbad.

Die Decke des alten Bahnhofbistros stammt aus dem Jahr 1882. Heute befindet sich hier das Infozentrum von Göschenen.
Infozentren Göschenen und Airolo

Einblicke in das Projekt «Zweite Röhre»


Die Infozentren von Göschenen und Airolo befinden sich bei den jeweiligen Bahnhöfen. Der Eintritt ist kostenlos und ohne Anmeldung möglich. Auch der Baustellenrundgang kann selbständig begangen werden. Für Gruppen ab 10 Personen wird eine Anmeldung empfohlen. Gruppenführungen können zudem auch ausserhalb der Öffnungszeiten gebucht werden.

Öffnungszeiten Sommer (1. April – 14. Oktober)

Mittwoch, 13:00 – 17:00 Uhr

Freitag, 13:00 – 17:00 Uhr

Samstag, 09:00 – 17:00 Uhr

Öffnungszeiten Winter (15. Oktober – 31. März)

Samstag, 13:00 Uhr – 17:00 Uhr

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