«Ein Ort, an den wir uns erinnern müssen, um ihn zu vergessen.» Die Worte des dänischen Filmemachers Michael Madsen («Into Eternity») fassen die Herausforderungen der Dokumentation und Markierung eines geologischen Tiefenlagers perfekt zusammen.
Es dürfte eine Zeit kommen, in der unsere Nachkommen entscheiden werden, das Tiefenlager zu verschliessen. Je mehr Zeit vergeht, desto abstrakter wird die Gefahr, die vom Atommüll im Untergrund ausgeht. Die Existenz dieses radioaktiven Grabs und das Wissen darüber darf aber nicht gänzlich ausradiert werden. Wie stellen wir das an?
Weniger Hokuspokus
Eins vorweg: Es gibt nicht die eine Lösung, wie wir unser Wissen langfristig in die Zukunft transportieren. «Wir brauchen eine ganze Toolbox mit verschiedensten Massnahmen», sagt Barbara Habermacher. Sie ist die Delegierte der Nagra in der internationalen Expertengruppe EGAP (Expert Group on Awareness Preservation). «Über so lange Zeiträume kann man sich nie sicher sein, ob eine Methode funktioniert. Deshalb braucht es unterschiedliche Ansätze.» All diese Ansätze kombinieren sich zu einer Strategie. Diese wird ständig aktualisiert, da zuverlässige Aussagen über die Gesellschaft und Technologie in ferner Zukunft nur beschränkt möglich sind.
Mit «Awareness preservation» ist der möglichst lange Kenntniserhalt des Lagerstandorts gemeint, es geht also um den langfristigen Horizont. Wissen und Informationen müssen aber nicht nur direkt in eine ferne Zukunft übertragen werden, sondern vor allem kontinuierlich an die nächsten Generationen. Das nennt sich Wissenstransfer.
Freilich erscheint diese detaillierte Dokumentation und Archivierung weniger attraktiv als künstlerische Auseinandersetzungen – Stichwort Strahlenkatzen – mit einer dystopischen Zukunft. Doch das ist die Realität: Es geht um gefährliche Abfälle, die Sicherheit hat höchste Priorität – Science ist wichtiger als fiction.
In 100 Jahren wissen, was wir heute tun
Ein Tiefenlager ist auch ohne Markierung und Dokumentation langfristig sicher. Das Schweizer Gesetz schreibt jedoch vor, dass das Lager markiert und dokumentiert wird. Auch aus ethischer Sicht ist das nachvollziehbar. Deshalb nimmt die Nagra das Thema ernst und verfolgt die weltweite Forschung zum Thema.
Eine relevante Massnahme wird nach heutigem Erkenntnisstand das KIF (key information file) darstellen. In Schweden existiert ein erster Entwurf, welcher derzeit von externen Stellen geprüft wird. Erarbeitet wurde er im Auftrag der schwedischen Entsorgungsorganisation SKB an der Universität Linköping. Dort forschen Anna Storm und Thomas Keating am «nuclear memory project». Im Juli-Newsletter schrieb Keating, dass die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Informationen in einem KIF eine grosse Herausforderung darstellen: «Das KIF lesbar zu machen, ist eine Aufgabe, die theoretische und künstlerische Methoden ebenso erfordert wie sprachliche und wissenschaftliche.» Das erfordere viele unterschiedliche Ansätze. Damit wären wir wieder bei der Toolbox.
«Das Wissen muss zudem breit gestreut werden», ergänzt Barbara Habermacher. «In der Schweiz werden die Informationen letztendlich ans Bundesarchiv übergeben.» Letztendlich bedeutet: Wenn das Lager verschlossen wurde, nicht mehr überwacht wird und damit durch den Bundesrat aus dem Kernenergiegesetz entlassen wurde. Es mache zudem Sinn, die Infos sowohl lokal als auch international zu streuen. «Das Ziel ist, dass die Menschen in Zukunft eine informierte Entscheidung treffen können.» Wissenstransfer eben.
In gut 100 Jahren könnte das Schweizer Tiefenlager verschlossen werden. Die Menschen, die dann am Projekt arbeiten, sollen wissen, was wir heute tun. «Früher tendierte man dazu, künftige Zivilisationen vom Tiefenlager fernzuhalten oder sogar abzulenken. Heute nehmen wir uns vor, das jetzige Wissen sicher an die nächste Generation zu übergeben.», erklärt Habermacher. «Und vielleicht können wir auch Prozesse anstossen, die darüber hinaus erhalten bleiben.»
Wie geht es jetzt weiter?
Wie ein KIF für die Schweiz aufgebaut sein könnte, damit wird sich Barbara Habermacher nun befassen. «Sicher gehören die wichtigsten Informationen wie der Standort des Lagers, die Abfallarten und Abfallmengen in dieses Dokument», blickt sie voraus.
Die Nagra ist verpflichtet, ein Konzept für die dauerhafte Markierung mit dem Baugesuch einzureichen. Dabei wird man sich auch mit den Schwesternorganisationen Andra (Frankreich) und SKB (Schweden) austauschen, die bereits an der Erstellung eines KIF arbeiten. Auch der Einbezug von weiteren Akteuren wie Behörden und WissensträgerInnen wird geprüft. Dazu gehöre auch die lokale Bevölkerung, sagt Barbara Habermacher. «Die Nagra will ein relevantes Dokument schaffen, das auch von der lokalen Bevölkerung getragen wird.»
Wie lange die Dokumentation und Markierung überdauern wird, kann heute niemand mit Sicherheit sagen. Gut möglich, dass das Atommülllager allen Bemühungen zum Trotz irgendwann in Vergessenheit geraten wird. Doch auch wenn das Wissen eines Tages verloren geht: In den stabilen Gesteinsschichten tief im Untergrund bleibt der Atommüll sicher eingeschlossen. So lange, bis davon keine Gefahr mehr ausgeht.