Arbeitsbericht NAB 23-39

Analytische Methoden zur Untersuchung der Sickerströmung und des Transports in einem generischen Tiefenlager für radioaktive Abfälle

Zusammenfassung

Im vorliegenden Bericht werden geschlossene Formeln für die Beschreibung der Sickerströmung entlang den Auflockerungszonen (AUZ) eines generischen Tiefenlagers für hochradioaktive Abfälle (HAA-Lagers) abgeleitet und diese für umfassende Modellrechnungen verwendet. Das hydraulische Netzwerk lehnt sich an die von der Nagra im Jahre 2016 vorgestellte Lager­auslegung, die mit wenigen Änderungen dem Stand von 2022 entspricht. Sie besteht aus einer Reihe gleich langer Lagerstollen und einem Betriebstunnel, welcher zu einem Betriebsschacht führt. Das Lager befindet sich in der Mitte der rund 100 m mächtigen Schicht des Wirtgesteins. Sowohl die Lagerstollen wie auch der Betriebstunnel weisen eine Bentonitverfüllung auf, deren Durchlässigkeitsbeiwert berücksichtigt werden kann. Die AUZ der Lagerstollen und des Betriebstunnels werden durch Versiegelungsbauwerke unterbrochen, welche die Flussrate zum Betriebstunnel verringern und die Strömungszeit vergrössern. Es erfolgt eine kontinuierliche Sickerströmung vom Wirtgestein in die Lagerstollen und hieraus entlang des Betriebstunnels zum Schachtfuss. An dieser Stelle herrscht ein piezometrischer Druck, der kleiner ist als der im ungestörten Wirtgestein vorherrschende Druck. Dank diesem Druckunterschied wird eine stationäre Sickerströmung im System aufrechterhalten. Das Wasser steigt in der kurzen Länge der AUZ des Schachtes zur Obergrenze des Wirtgesteins. Unsere Untersuchung der Sickerströmung endet am Schachtfuss.

Die vereinfachenden Annahmen der Strömungsberechnung sind im Wesentlichen die gleichen, welche den numerischen Berechnungen der von der Nagra verwendeten Software zugrunde liegen. Das Wirtgestein sowie das Gestein in der AUZ werden als homogen isotropes poröses Material betrachtet, das dem Gesetz von Darcy folgt. Die Strömung erfolgt gesättigt und stationär.

Die physikalischen Grössen, welche in den Berechnungen auftreten, sind der piezometrische Druck, die Filtergeschwindigkeit, die Strömungszeit und die Flussrate. Die eingeführten Para­meter beziehen sich auf die Geometrie, auf die hydraulischen Eigenschaften und die Druck­verhältnisse. Die Länge der Lagerstollen, ihr gegenseitiger Abstand, die Länge des Betriebs­tunnels, der Abstand zwischen dem Lagerfeld und Schacht, die Abmessungen der AUZ, die Länge des Verschlussbauwerkes sowie auf die Mächtigkeit des Wirtgesteins und ergeben insgesamt 9 geometrische Parameter. Die Zahl der Durchlässigkeitsbeiwerte beträgt 4. Zusammen mit dem im Wirtgestein herrschenden piezometrischen Druck und jenem am Schachtfuss werden somit im allgemeinen Fall 15 unabhängige Parameter in die Berechnungen eingeführt.

Den Ausgangspunkt der Ableitungen bildet die zweidimensionale Radialströmung vom Wirt­gestein in die Lagerstollen. In der Umgebung eines Vertikalbrunnens, der eine unter gespanntem Grundwasser stehende Schicht durchörtert, spielen sich Vorgänge ab wie bei einem horizontalen Brunnen oder in einem Tunnel unter Grundwasser. Deshalb kann für die Lagerstollen unter Anpassung die Formel von Dupuit verwendet werden.

Ist der piezometrische Druck am Eingang des Lagerstollens in den Betriebstunnel bekannt, so kann die eindimensionale Strömung in ihm aufgrund des Gesetzes von Darcy und der Massen­erhaltung exakt berechnet werden. So erhält man insbesondere jene Wassermenge, welche von den Lagerstollen in den Betriebstunnel einfliesst. Um nun die Strömung im Betriebstunnel selbst zu ermitteln, greift man zu einem mathematischen Kunstgriff, indem man die singulären Wasser­zutritte aus den einzelnen Lagerstollen auf die Länge entsprechend ihrem gegenseitigen Abstand gleichmässig verteilt. Dies ist eine in der Physik gängige Methode, um Singularitäten formal zu überwinden. Auf diese Weise ist es möglich das Problem des Betriebstunnels auf jenes der Lager­stollen zu überführen. In beiden Fällen ergibt sich für die Ermittlung des piezometrischen Drucks eine inhomogene lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung, deren Integration auf die natürliche Exponentialfunktion führt. Dies erklärt die Tatsache, dass trotz einer grossen Zahl von Parametern geschlossene Lösungen möglich sind. Dies gilt ebenso für die Zeit, die es braucht, bis das Wasser von einem Punkt des Lagerfeldes zum Schacht gelangt. Die mathematischen Ablei­tungen erfolgen schrittweise unter Verwendung von einfachen zu komplexeren Modellen, wobei sich die ersteren jeweils als Sonderfall des letzteren darstellen lassen.

Die erhaltenen Formeln bieten die Möglichkeit, die Strömungsvorgänge unter unterschiedlichen Modellannahmen und insbesondere für konservative Parameterwerte quantitativ zu untersuchen. Die erhaltenen Resultate bestätigen die von der Nagra bereits 2002 aufgrund numerischer Berechnungen erhaltene Erkenntnis, dass die Flussrate des aus dem Lager austretenden Wassers eine absolute Obergrenze hat, welche im Wesentlichen durch die Durchlässigkeit des Wirt­gesteins bedingt ist. Besonders aufschlussreich sind neben den zahlreichen Diagrammen die Isolinien für die Strömungszeit im Lagerfeld, die unter Berücksichtigung der Porosität der AUZ ermittelt wird. So erkennt man beispielsweise jenen hinteren Bereich des Lagerfeldes, von dem das Wasser mehr als 1 Mio. J. benötigt, um den Schacht zu erreichen. Hieraus schliesst man, dass von dort keine Radionuklide während des Nachweiszeitraumes zum Schacht gelangen können.

Die Modellrechnungen haben des Weiteren ergeben, dass der mit Bentonit verfüllte Abschnitt des Betriebstunnels zwischen Schacht und Lagerfeld, je nach seiner Länge, eine erhebliche Barriere­wirkung entfalten kann. Sie beruht auf dem Energieverlust, welcher auf dieser Strecke stattfindet. Bei kürzeren Strecken vergrössert sich der Anteil des Lagerfeldes, von dem aus während der Betriebszeit Radionuklide zum Schacht gelangen können. Des Weiteren ist zu beachten, dass auf der Strecke der Verlängerung des Betriebstunnels eine Rückhaltung (Sorption) stattfindet, welche besonders für Radionukliden mit langer Halbwertszeit eine wirksame Barriere darstellen kann. Es wird vorgeschlagen, zur Erhöhung der Langzeitsicherheit eine solche mit Bentonit verfüllte Strecke bei der Lager­auslegung in Erwägung zu ziehen.

Einen wichtigen Einfluss haben die Verschlussbauwerke, die am Eingang der Lagerstollen angeordnet werden und auf einer bestimmten Länge eine wesentlich geringere Durchlässigkeit aufweisen als die AUZ. Die Modellrechnungen haben ergeben, dass die Wirkung der Verschluss­bauwerke gemeinsam mit jener der Verlängerung des Betriebstunnels nur geringfügig höher ist als die Wirkung dieser einzelnen Massnahmen.

Eine gesonderte Untersuchung wird dem Einfluss einer ausbruchnahen Zone höherer Durch­lässigkeit in der AUZ sowie jenem der Durchlässigkeit der Bentonitverfüllung gewidmet.

Der Bericht schliesst mit der Anwendung der Formel auf die Ermittlung der Menge von Radio­nukliden, die von einem gegebenen Punkt eines Lagerstollens unter Berücksichtigung der Halbwertszeit und der Ablösungsrate bei Vernachlässigung der Rückhaltung (Sorption) im Wirt­gestein unzerfallen den Schacht erreicht. Auch für dieses Problem liegt eine geschlossene Lösung vor. Solche Berechnungen könnten dazu beitragen, die Funktionsweise eines Tiefenlagers für hochaktive Abfälle auch nicht sachkundigen Personen verständlich zu machen.