
«Wir vertrauen der Technologie stärker als der Kultur»
Für Jeannie Schneider gibt es nicht die Zukunft – sondern Zukünfte. Und diese sind kein linearer Prozess, sondern ein Möglichkeitsraum, den wir in einem Zusammenspiel von Technologie, Politik und Gesellschaft aktiv gestalten können.
Jeannie Schneider, Sie beschäftigen sich beim Think & Do Tank Dezentrum mit der Zukunft. Wie stellten Sie sich als Kind Ihre eigene vor?
Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in Hawaii. Wir hatten Kühe, Chamäleons und Meerschweinchen im Garten. Mir war darum klar: Wenn ich gross bin, werde ich Bäuerin.
Stattdessen sind Sie heute Partnerin beim Dezentrum. Wie kam’s?
Ich wurde früh politisiert und bin mit 14 in die Juso eingetreten. Dort wurde mir klar, wie wichtig gesellschaftliche Probleme sind. Gleichzeitig bemerkte ich, dass technologische Entwicklung nicht als politisches Thema wahrgenommen wird, sondern als etwas Naturgegebenes. Die Schnittstelle von Politik und Technologie wird meiner Meinung nach zu wenig erforscht, obwohl technologische Entwicklung heute einer der grössten Treiber für Veränderung ist.
Kann man die gewünschte Zukunft manifestieren?
Auf individueller Ebene kann das funktionieren, auf struktureller Ebene erfolgt die Auseinandersetzung mit der Zukunft eher emanzipatorisch. Viele haben das Gefühl, dass sie über uns hereinbricht, dass wir wenig Handlungsspielraum haben. Wenn man sich vor Augen hält, dass es nicht die Zukunft gibt, sondern die Zukünfte, wird der Handlungsspielraum wieder grösser. Gleichzeitig sorgt diese Idee für eine Dringlichkeit, um sein Verhalten in der Gegenwart zu ändern und einen Schritt in die eine oder andere Zukunft zu machen.
Das Tiefenlager soll eine Million Jahre halten. Was bedeutet dieser unfassbar lange Zeitraum für Sie als Forscherin?
Das ist für die Zukunftsforschung eine grundsätzliche Knacknuss. Forschung will Wissen schaffen, das validiert werden kann, sei es mit einem Experiment oder einer Umfrage. Doch Zukunft ist inhärent eine Blackbox. Diese Spannung hat zur Folge, dass Zukunftsforschung nicht nur beschreibend ist, sondern immer auch wertebasiert. Wir müssen uns überlegen, wie wir etwas haben wollen – und nicht, wie es sein wird. Etwas zu erforschen, das es noch nicht gibt, multipliziert sich bei einem Projekt mit einer derart grossen Zeitdauer ins Extreme.
Mit welchen Methoden gehen Sie beim Dezentrum an solche Fragen heran?
Wir arbeiten vor allem mit Szenariotechnik und spekulativem Design. Bei der Szenariotechnik wird Zukunft nicht als linearer Prozess gedacht, sondern als Möglichkeitsraum. In einem ersten Schritt beschreiben wir den Status quo und die Umstände, die ihn beeinflussen. Im zweiten Teil wird es spekulativ: Wir machen einen Sprung in die Zukunft und entwerfen mögliche Szenarien. Ein gutes Szenario ist nicht eines, das möglichst wahrscheinlich ist, sondern eines, das stimmig ist. So versuchen wir, den Möglichkeitshorizont aufzubrechen. Beim spekulativen Design wiederum stellt man sich vor, wie ein Tool oder Instrument der Zukunft aussehen könnte.
Können Sie dazu ein Beispiel machen?
Die Macher von Star Trek haben sich gefragt, wie die Kommunikation der Zukunft aussehen könnte. Jemand kam auf die Idee des Kommunikator, der mobil ist und jederzeitigen Kontakt ermöglicht – ein Handy also. Und tatsächlich: Ein Motorola-Designer meinte später, er wurde vom Kommunikator beeinflusst. Spekulative Objekte können helfen, etwas zu versinnbildlichen und damit erfahrbar zu machen.

Lieber hören statt lesen?
Dieses Interview entstand im Rahmen der dritten Ausgabe des Jahrhundertmagazins «500m+» der Nagra. Hannes Hug interviewte die Protagonistinnen und Protagonisten im Treffpunkt der Nagra in Stadel – der Gemeinde, in der die Oberflächenanlage des Tiefenlagers gebaut werden soll.
Zehn spannende Gespräche ermöglichen neue Perspektiven auf das Tiefenlager. Zu hören ist der Jahrhundertpodcast auf der Website des Jahrhundertmagazins 500m+ oder überall, wo es Podcasts gibt.
Das Smartphone ist eine disruptive Erfindung, von der wir immer noch nicht genau wissen, wie sie uns beeinflusst. Wie fliessen solche Aspekte in Ihre Forschung ein?
Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft ist unser Kernthema. Beim Smartphone wissen wir tatsächlich nicht, welche Einflüsse es hat – gerade auf Kinder, die vom ersten Moment ihres Lebens an damit konfrontiert sind. Bei sozialen Medien wiederum müssen wir uns bewusst sein, dass wir das Produkt sind. All diese Plattformen sind daraus ausgerichtet, die Verweildauer zu maximieren, was gemäss Studien verheerende Folgen auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Wir müssen digitale Technologien vermehrt als Politikum verstehen und uns stärker mit der Nutzung und ihren Folgen befassen.
Beim Dezentrum spielt Partizipation eine wichtige Rolle. Wie könnte ein partizipativer Prozess im Fall des Tiefenlagers aussehen?
Richtige Partizipation heisst für mich Mitbestimmung. Bei unseren Prozessen besteht die Idee von Partizipation in der Gleichsetzung verschiedener Perspektiven: Laien haben gleich viel zu melden wie Expertinnen und Experten aus Politik oder Digitalisierung. Bei den Endlagerungsprojekten sehen wir das Gegenteil, einen technokratischen Top-Down-Ansatz. Es gibt einen bestimmten Ort, der sich aufgrund der Gesteinslage am besten eignet. Wir sprechen von einem partizipativen Prozess, gleichzeitig gibt es ein Expertenwissen, das die Entscheidung bestimmt – dies führt zu Spannungen.
Weitere Artikel aus dem Jahrhundertmagazin
Das Tiefenlager ist ein unglaublich grosses und komplexes Projekt. Können wir so etwas?
Wir müssen es können. Was ich spannend finde: Das Endlager soll eine Million Jahre halten, aber der Entscheidungsprozess läuft erst seit ungefähr dreissig Jahren. Ins Verhältnis gesetzt ist das sehr kurz. Wir denken oft, dass es schnell gehen und effizient sein muss, damit etwas gut ist. Doch in einer Demokratie sind Schnelligkeit und Effizienz nicht immer der beste Weg. Gerade wenn man sich nicht nur von Entscheidungen von Expertinnen und Experten abhängig machen will, sollte der Prozess eventuell länger gedacht werden. Ob es weitere fünf oder zehn Jahre länger dauert, spielt angesichts des langen Wirkungszeitraums keine Rolle.
Wie sehen Sie die Thematik der atomaren Abfälle persönlich?
Für mich stehen sie sinnbildlich für die Art, wie wir über Technologien denken: Atomkraft und die Lagerung der Abfälle werden als zwei verschiedene Themen betrachtet. Dasselbe Verhalten sehen wir auch bei vielen anderen Themen wie Öl oder Lithium. Die wahren, langfristigen Kosten einer Technologie werden ausgespart.
Ich bin 56 Jahre alt, die Atomdebatte hat mich fast mein ganzes Leben begleitet. Sie sind 27 Jahre alt, wie haben Sie die Entwicklung wahrgenommen?
Atomkraft war mein Leben lang ein Auslaufmodell, eine Technologie, von der wir uns Schritt für Schritt verabschieden. Mit der Klimakrise kam Atomkraft plötzlich wieder auf die politische Agenda, obwohl die Risiken immer noch bestehen. Für mich steht das sinnbildlich für die Art, wie wir mit Problemen umgehen – auch mit der Klimakrise. Statt unsere Gesellschaft so zu transformieren, dass wir weniger Energie benötigen, greifen wir auf die Kernenergie zurück. Die Gefahren und Abfälle werden in den Hintergrund gerückt, nur damit wir unseren Lebensstandard halten können. Bei der Endlagerung stehen wir vor demselben Problem. Wir fragen uns, wie wir die Endlagerung gestalten, damit sie sicher ist. Dabei vertrauen wir der Technologie – in diesem Fall Castor-Behältern – viel stärker als einer Kultur, die für die langfristige Sicherheit der Abfälle sorgen könnte.
«Wir müssen es können.»
Jeannie Schneider über das Tiefenlagerprojekt
Wie könnte man dafür sorgen, dass sich Menschen mehr für das Tiefenlager interessieren?
Ich verstehe, dass dieses Thema keine Säle füllt. Auch, weil der Zeithorizont so erdrückend lang ist. Zudem leben wir in einer Zeit, in denen Menschen ihre Heizkosten nicht bezahlen können. Politisches Engagement hängt aber immer auch von persönlichen Ressourcen ab. Wer im Alltag kämpfen muss, hat keine Zeit für politisches Engagement – schon gar nicht für ein abstraktes Thema wie das Tiefenlager.
Wie weit in die Zukunft denken Sie?
Persönlich ist mein Zeithorizont eher kurz, bei Dezentrum betrachten wir oft nur eine Generation. Das liegt daran, dass wir kleine Einheiten, die Firma oder Angestellten, betrachten. Wir starten bald ein Projekt zur Frage, ob verkürzte Arbeitszeiten wirtschaftliche, persönliche, aber auch ökonomische Vorteile bringen. Der Zeithorizont bei diesem Projekt ist 2040, da viele der heute Betroffenen dann immer noch am Arbeiten sein werden.
Sie haben unter anderem Geschichte studiert. Inwiefern taugt Geschichte, um die Zukunft zu antizipieren?
Geschichte ist die einzige Möglichkeit, um Informationen zu gewinnen. Mit diesen Informationen können wir zwar nicht die Zukunft antizipieren, aber wir können lernen. Zum Beispiel von früheren Zukunftsszenarien, wie sie an der Landesausstellung Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt wurden. Dort gab es Postkarten, die das Leben im 21. Jahrhundert zeigten. Man sieht ein Schulzimmer mit Kindern mit einem Sieb auf dem Kopf, durch das Wissen von einer Maschine eingeflösst wird. In diesem Schulzimmer sitzen nur Jungen, auch der Lehrer ist ein Mann. In einer Küche sieht man einen Besen, der automatisch wischt – und daneben steht eine Frau mit Schürze. Man hat also den technologischen Wandel antizipiert – aber nicht den gesellschaftlichen Wandel. Die Vorstellung der Zukunft sagt viel über die Gegenwart aus.

Zukunft wurde lange als verheissungsvoll dargestellt, heute eher dystopisch. Wann hat sich das gedreht?
Die Frage, ob es ihre Kinder dereinst besser haben werden, wurde während Generationen mit Ja beantwortet. Um 2010 herum hat sich das geändert. Auch jetzt merkt man, dass die Zukunft, zumindest gefühlt, enger wird. Das erstaunt mich nicht, weil wir seit circa vierzig Jahren in einem Mindset leben, das keine Alternativen zulässt. Es gibt ein Wirtschaftssystem und eine Art zu leben, die für Wachstum sorgt – und Wachstum bedeutet Wohlstand. Gleichzeitig erleben wir derzeit das Scheitern dieser Prämisse. Wir erkennen, dass endloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen nicht möglich ist. Dies führt zu einer Verengung der Idee von Zukunft und damit zu Spannungen.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel?
Niemand hat gesagt, dass es einfach sein wird.
Jeannie Schneider hat Politikwissenschaft, Recht, Philosophie und Globalgeschichte studiert. Als Partnerin des Think & Do Tank Dezentrum forscht sie an partizipativem Wandel und der Schnittstelle von Technologie, Politik und Gesellschaft.
Bilder: Maurice Haas