
Was war für Sie persönlich das Highlight 2024?
Matthias Braun: Dass wir die beiden Rahmenbewilligungsgesuche (RBG) im November eingereicht haben. Mehr noch: Dass wir das in hoher Qualität und auf Zeit geschafft haben. Und das nur zwei Jahre nach dem letzten grossen Meilenstein, als wir im September 2022 den Standort für das Tiefenlager angekündigt haben. Dies war ein grosser Effort der ganzen Nagra. Davor ziehe ich den Hut.
Lino Guzzella: Dem stimme ich vollends zu. Zudem hat mich beeindruckt, wie professionell, beharrlich und produktiv nun an diesem wichtigen Projekt weitergearbeitet wird. Und wie still diese Arbeit erledigt wird. Eine solche Ausdauer macht die Qualität einer Organisation aus. Am Schluss entscheidet der Marathon.
Braun: Ja – und auch, einen Sprint abliefern zu können, wenn einer verlangt ist. Zudem spüre ich in der Nagra die Begeisterung, für das Generationenprojekt Tiefenlager zu arbeiten.
Welche Bedeutung haben die beiden Gesuche für die Gemeinden vor Ort, für die Standortregion und für die Schweiz?
Braun: Wir haben jetzt einen Rahmen gesetzt. Das schafft lokal eine erste Verbindlichkeit darüber, wo und wie das Projekt dereinst verwirklicht werden soll. In diesem Rahmen entwickeln wir nun das Vorhaben, bis hin zu einem konkreten Bauprojekt. Und grösser gedacht: Erhalten wir die Rahmenbewilligungen für das Tiefenlager in Nördlich Lägern und die Verpackungsanlage in Würenlingen, ist das eine politische Willensäusserung der Schweiz. Für uns wäre das eine wichtige demokratische Legitimation.
Guzzella: Mit den eingereichten RBG machen wir den zentralen Schritt, wir sind nun in der entscheidenden Bewilligungsphase. In dieser formellen Phase gibt es Fristen. Zum Beispiel für die Begutachtung unserer Gesuche, die zurzeit läuft.
Aus dem bisherigen Lagerkonzept soll ein Bauprojekt werden. Wo liegt da der Unterschied?
Braun: Bislang ging es vor allem darum, welcher Standort der sicherste ist für das Tiefenlager. Und dass der Schutz von Mensch und Umwelt gemäss den gesetzlichen Vorgaben und Grenzwerten der ENSI-Richtlinien gewährleistet wird. Mit Nördlich Lägern und dem Lagerkonzept haben wir diese zwei Fragen in den RBG beantwortet. Als Nächstes wird aus dem allgemeinen Konzept ein konkretes Bauprojekt entwickelt. Dabei wird das Projekt am gefundenen Standort mit seinen lokalen Gegebenheiten ausgearbeitet. Zudem soll das Bauvorhaben mit möglichst wenigen Eingriffen in die Landschaft und den Untergrund realisiert werden. Wichtig hierbei: In den eingereichten RBG geht es noch nicht darum, wie genau das Tiefenlager gebaut wird. Wie dick eine Betonschicht oder wie lang ein Elektrokabel sein soll, das wurde also noch nicht festgelegt. Oder bildlich gesprochen: Der Rahmen wurde gesetzt, jetzt wird das Bild gemalt. Dabei steht der Schutz von Mensch und Umwelt immer zuoberst. Daran wird nicht gerüttelt.
Die Nagra begrüsst eine breite Debatte. Warum?
Guzzella: Die nationale Politik hat sich bislang noch nicht gross mit dem Projekt Tiefenlager beschäftigt. Mit der Einreichung der Gesuche ist sie nach der Expertenprüfung aufgefordert, Stellung zu beziehen. Damit wird die Debatte konkreter, realistischer und auch breiter.
Braun: Ich freue mich auf diese Debatte. Mit der RBG-Dokumentation hat man jetzt etwas Konkretes in der Hand, über das man gemeinsam diskutieren kann.

Jahrhundertprojekt auf Kurs
An der Generalversammlung vom 18. Juni hiessen die Genossenschaftsvertreter sowohl den Geschäftsbericht als auch die Jahresrechnung 2024 einstimmig gut und erteilten der Verwaltung Décharge.
Wenn die Diskussion nationaler wird: Gehen dabei die Gemeinden vor Ort nicht vergessen?
Braun: Es wird wohl national über das Projekt diskutiert werden. Aber Umsetzung und Entwicklung sind sehr lokal, sie finden vor Ort statt. Da geht es zum Beispiel um Zufahrten, Sichtschutz, Lärm, Lastwagenfahrten, Aushub oder um Raumentwicklung im weiteren und engeren Sinn. Das sind alles Themen, die nicht national sind, lokal hingegen sehr interessieren. Darum sind wir gerade auch mit den Standortgemeinden Stadel und Würenlingen in engem Austausch.
Guzzella: Für die Projektentwicklung sind diese beiden Gemeinden zentrale Partner. Wir werden ihre Anliegen bei der Umsetzung so weit wie möglich berücksichtigen. Damit die Zusatzbelastung möglichst klein bleibt, die sie im nationalen Interesse auf sich nehmen. Aber auch darüber hinaus nehmen wir lokale Bedenken und Anliegen ernst. Und dass das Lager für Mensch und Umwelt sicher sein muss, hat jederzeit oberste Priorität.
Braun: Gleichzeitig findet die Abstimmung über das Tiefenlager national statt, also über die Frage, ob die Schweiz eine Lösung für ihre radioaktiven Abfälle will. Je besser die Projektentwicklung vor Ort ist, desto besser wird das auch national aufgenommen.

Wiedereinstieg in die Kernkraft oder Transmutation radioaktiver Abfälle: Welchen Einfluss haben solche Debatten auf die Arbeit der Nagra?
Guzzella: Keinen. Ob neue Kraftwerke oder die Transmutation: Ein Tiefenlager wird es in jedem Fall brauchen. Da ändert sich also nichts an unserem gesetzlichen Auftrag. Das haben wir wiederholt so kommuniziert. Auch, dass die Frage neuer Kraftwerke nicht die Nagra, sondern die Schweiz als Ganzes beantworten müsste.
Was hat die Nagra 2024 sonst noch geschafft?
Braun: Auch 2024 wurde an einer Vielzahl von Vorhaben gearbeitet, die uns wichtige Daten liefern für die Projektentwicklung. Dazu gehören zum Beispiel Experimente in den Felslaboren oder die Zusammenarbeit mit vielen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Mit der nun anlaufenden Projektentwicklung mussten wir auch unsere Organisation neu ausrichten. Das bedeutet zum Beispiel, dass neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Nagra gestossen sind. Und für die bisherigen heisst das, dass sie teilweise neue Aufgaben erhalten. Wir passen uns also an, entwickeln uns weiter.
Guzzella: Auch in der Verwaltung sind neue Mitglieder dazugekommen, die sich gut eingelebt haben. Die Zusammenarbeit insgesamt hat sich sehr gut entwickelt.

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