Technischer Bericht NTB 90-04

Zur Tektonik der zentralen NordschweizInterpretation aufgrund regionaler Seismik, Oberflächengeologie und Tiefbohrungen

Dieser Bericht behandelt Methodik und Resultate einer geologischen Interpretation der Nagra-Reflexionsseismik 1982 – 1984 aus dem Gebiet der zentralen Nordschweiz. Eckpunkte des Untersuchungsgebietes, welches durch das ganze verfügbare Seismik­Liniennetz abgedeckt wird, sind die Städte Schaffhausen/Zürich im Osten und Säckingen/Olten im Westen.

Grundgebirge

Bau und Entwicklungsgeschichte des kristallinen Grundgebirges der Region Nordschweiz müssen im Rahmen der zentraleuropäischen variskischen Orogenese und im Kontext plattentektonischer Modelle (Kontinentkollision im Oberdevon-Karbon) betrachtet werden. Dieser eine grössere Region umfassende Rahmen bedingt u. a., dass der im Südschwarzwald beobachtete Bauplan und Stoffbestand im Prinzip auch für die Nordschweiz Gültigkeit hat.

Die variskische Entstehungsgeschichte des kristallinen Grundgebirges der Nordschweiz lässt sich demnach in folgende Phasen gliedern:

  • Prävariskischer Gneisrahmen (Präkambrium-Altpaläozoikum);
  • Variskische Konvergenz, synkinematische Plutonite (Devon-Karbon);
  • Aufdomung und Extension des Gebirgskörpers, postkinematischer Plutonismus (Karbon), Bildung von Senken im Oberkarbon;
  • Spätorogene Zerscherung, saurer Vulkanismus (Perm, saalische Tektonik);
  • Postorogene Subsidenz und Einebnung der Gebirge (Perm).

Die Reflexionsseismik war bisher nicht in der Lage, genügend belastbare Informationen über Tektonik und Lithologie aus dem Kristallin zu liefern. Hingegen sind spätvariskische sedimentäre Trogfüllungen, insbesondere deren Tektonik seismisch kartierbar. Verfügbare Daten, insbesondere auch die Nagra-Tiefbohrungen, weisen auf eine alte, tief ins kristalline Grundgebirge greifende Spröddeformation, deren Reaktivierung im Tertiär den Bauplan der Nordschweiz nachhaltig beeinflusst hat.

Jungpaläozoische Tröge

Im Untersuchungsgebiet konnten mindestens zwei um WSW-ENE verlaufende spätpaläozoische Sedimenttröge nachgewiesen werden: ein nördlicher Trog unter dem Gebiet· des Tafeljuras (Nordschweizer Permokarbon-Trog /NPT) und ein südlicher Trog (Olten-­Lenzburg-Trog), der aber mangels Daten nicht näher untersucht wurde.

Der Nordschweizer Permokarbon-Trog zeigt im Querschnitt die Form eines asymmetrischen Halbgrabens, der im zentralen Bereich von mehreren WNW-ESE verlaufenden dextralen Seitenverschiebungen (z. B. Eggberg-Verwerfung, Vorwald-Störung) durchquert wird. Diese unterteilen den Trog in einen Ost- und einen Westabschnitt, die sich in ihrem Tiefgang und in der Orientierung ihrer Asymmetrie unterscheiden. Hauptsächlich im Bereich der dextralen Querstörungen lässt die Reflexionsseismik auf Verfaltungen und Überschiebungen im Troginnern schliessen, was als Resultat der saalischen Transpression an der Wende Unter-/Oberperm interpretiert wird. Im späten Perm wird die ausklingende variskische Tektonik im ganzen Trog von einer z. T. weiträumigen, differenziellen Einsenkung u. a. auch an flachen Abschiebungen gekennzeichnet.

Die tektonischen Abläufe spiegeln sich v. a. in der bis zu 5 km mächtigen sedimentären Trogfüllung:

  • Die ältere Untere Trogfüllung umfasst Kohle- und Seeablagerungen einer urspüngIich weiten Senke, die von syntektonischen Serien diskordant überlagert werden (Schuttfächer, rasche laterale Fazieswechsel, synsedimentäre Tektonik).
  • Die jüngere Obere Trogfüllung (permische Rotgesteine) überlagert die Untere Trogfüllung diskordant und greift auf den Trogschultern gebietsweise weit über das Gebiet der älteren Trogfüllung hinaus. Die völlige Einebnung der Gebirge bis an die Wende zur Trias zeigt sich im Ausklingen der kontinentalen Sedimentation (Buntsandstein) und markiert gleichzeitig auch das Ende des variskischen Gebirgs­bildungs-Zyklus.

Mesozoisches und tertiäres Deckgebirge

Die vertikal feingegliederten lagunären und flachmarinen Sedimente des Mesozoikums wurden bei weitgehender tektonischer Ruhe abgelagert. Sie lassen sich, dank ihres vertikal sehr differenzierten, lateral aber kontinuierlichen Erscheinungsbildes (Signature) auf der Reflexionsseismik, im Detail kartieren.

Der marine Untere Muschelkalk transgredierte auf eine beinahe perfekte (subhorizontale) Peneplain. Die heutige Struktur dieser Peneplain (Marker Basis Mesozoikum) erlaubt somit detaillierte Aussagen über die totale, meist tertiäre Vertikal-Deformation des Sockels seit der Trias: Auffällig ist eine regionale Kippung nach SSE, welche sowohl durch die Absenkung der alpinen Vortiefe wie auch der Aufdomung des Südschwarzwaldes bewirkt wurde; ihr überlagert sich ein Abschiebungsmuster, das im Westen mit der paläogenen Oberrhein-Grabentektonik, im Osten mit der jüngeren Aufdomung und Kippung zusammenhängt. Dieses junge Störungsmuster entstand wahrscheinlich weitgehend durch die Reaktivierung älterer, hauptsächlich paläozoisch angelegter Störungszonen.

Im zentralen und westlichen Teil des Untersuchungsgebietes werden die Sockel­Strukturen vom Kettenjura überlagert. Bei dessen Entstehung im späten Miozän wurde das Deckgebirge infolge «Fernschub» auf den Evaporiten des Mittleren Muschelkalkes vom Sockel abgeschert, nach +/-NW transportiert und disharmonisch verfaltet.

Tafeliura

Das Gebiet des Tafeljuras zeigt eine extensive Sockeltektonik, die sich ins Deckgebirge fortsetzt (paläogen-miozäne Anlage); dieses wird an seinem Südrand, im Übergangsbereich zum Kettenjura, zusätzlich von Abscherungstektonik (Jurafaltung) überlagert.

Im Sockel westlich von Frick sind rheintalische NNE-SSW Störungen vorherrschend; im Osten dominieren WSW-ENE und NW-SE streichende Abschiebungen und Flexuren. Diese stehen im Einflussbereich der miozänen Südschwarzwald-Aufdomung und der Absenkung im Molassebecken; bevorzugt wurden paläozoisch angelegte Störungszonen reaktiviert.

Während des Fernschubs reagierte die abgescherte Sedimentdecke auf das im Sockel präexistente Bruchmuster verschiedenartig:

  • Westlich der Aare wurde die Decke als ganzes ca. 500 m nordwärts verfrachtet; der Fernschub endet im Norden an der Mandacher Überschiebung.
  • Östlich der Aare wird der N-Schub in einer Zone kleinerer Verschuppungen aufgenommen, diese überlagert Sockelflexuren, wird ostwärts schmäler und klingt östlich der Irchel-Antiklinale möglicherweise aus (östliches Ende des Fernschubs).
  • Der Schaffhauser Tafeljura liegt ausserhalb des Fernschubes; das Störungsmuster im höheren Deckgebirge paust hier weitgehend dasjenige des Sockels durch.

Kettenjura

Im Gebiet des Kettenjuras, der nicht Gegenstand detaillierter Untersuchungen war, hat die Reflexionsseismik der Nagra wesentlich zu einem neuen Verständnis der Tektonik des östlichen Kettenjuras beigetragen:

  • Wir haben jetzt die Möglichkeit, Lage und Form des Abscherhorizontes unter dem Kettenjura zu kartieren und damit eine genetische Beziehung zwischen den Falten/Schuppen und den Sockelstrukturen herzustellen und auch die Verkürzung im abgescherten Deckgebirge genauer als bisher zu bestimmen.
  • Die Reflexionsseismik zeigt im Sockel unter dem Kettenjura ein strukturelles Muster, das mit demjenigen des Tafeljuras vergleichbar ist und das von reaktivierten paläozoisch angelegten Störungen stark beeinflusst wurde. Dieses präexistente, im wesentlichen paläozoisch angelegte Störungsmuster hat auch die Geometrie der Jurafalten nachhaltig geprägt.

Nordrand des Molassebeckens

Im Untersuchungsgebiet sind Stil und Intensität der tektonischen Deformation im Sockel unter dem nördlichen Molassebecken, in dem infolge der regionalen Südkippung die Mächtigkeit der Molassesedimente südwärts zunimmt, vergleichbar mit denjenigen des nördlich angrenzenden Tafel- und Kettenjuras.

Im Südwesten zieht sich der heutige Nordrand des Molassebeckens dem Südfuss des Kettenjuras entlang. Wie die Reflexionsseismik zeigt, können die Strukturen des Kettenjuras teilweise auch unter dem Molassenordrand beobachtet werden. Vor allem in der Trias können Verschuppungen kartiert werden, während in höheren Stockwerken (Jura und Tertiär) hauptsächlich breite Faltenstrukturen vorherrschen. Damit kann der Molassenordrand hier als südlicher Teil des Kettenjuras aufgefasst werden (sog. subjurassische Zone).

Im übrigen Untersuchungsgebiet grenzt der Nordrand des Molassebeckens direkt an den Tafeljura, dessen Deformationsstil/Bruchmuster sich generell nach SE unter die Molasse hinein fortsetzt. Auffallend ist die Koinzidenz von Molassenordrand und der Verbreitung der Nordschweizer Permokarbon-Vorkommen. Östlich der Aare scheinen die Molassesedimente, insbesondere die Untere Süsswassermolasse, etwa im Bereich des NPT-Nordrandes auszukeilen. Eine genetische Beziehung zwischen dem Aussenrand des Molassebeckens und der Verbreitung paläozoischer Sedimenttröge im Sockel ist somit naheliegend.