«Wir Geologen rechnen in Millionen Jahren»


Eigentlich sei das, was die Nagra mache, Science-Fiction, sagt Nagra-CEO Matthias Braun in der dritten Ausgabe des Nagra-Jahrhundertmagazins «500m+». Allerdings Science-Fiction, die auf harten Fakten beruht – und auf Schwarmintelligenz.

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Matthias Braun, Sie sind mit einem Projekt beauftragt, das einen unglaublich langen Atem braucht. Es dauert Jahrzehnte, bis so ein Tiefenlager existiert – und dann existiert es für eine Ewigkeit. Was reizt Sie daran?
Das ist eine wahnsinnig tolle Herausforderung. Es ist ja eigentlich unvorstellbar, dass irgendetwas, was der Mensch erschafft, über eine Million Jahre Bestand haben kann. Das ist 200 Mal länger, als die Pyramiden schon stehen!

War Ihnen bewusst, was da auf Sie zukommt?
Was ich zu Anfang unterschätzt habe und was ich mittlerweile extrem schätze, ist die Breite dieser Aufgabe. Sie geht von der Klärung von juristischen Fragen, von Gesetzestexten bis zur Mikrobiologie, sie geht über jede Teildisziplin der Geologie bis in den Tunnelbau hinein. Es gibt Aspekte im politischen Leben, es gibt Aspekte in der Finanzierung. Eine wahnsinnig weit gefasste Aufgabe, die man mit relativ wenigen Leuten lösen muss; wir sind gut 100 extrem spezialisierte Menschen, die zusammenarbeiten, die etwas Integriertes generieren müssen. Ich glaube, am Schluss kommen gute Ideen durch Schwarmintelligenz.

Als CEO dieser Schwarmintelligenz – was machen Sie den lieben langen Tag?
Ich glaube, ich bin der Leim, der das Ganze zusammenhält. Ich habe eine privilegierte Position, die es mir erlaubt, gewisse Muster zu erkennen und einen kleinen Stoss zu geben, damit es an einem bestimmten Punkt weitergeht.

Das grosse Thema für viele Menschen ist natürlich die Sicherheit des Tiefenlagers. Wie gehen Sie damit um?
Die Fakten sind das eine, dieser Aspekt ist eigentlich relativ einfach. Es gibt Untersuchungen, da geht es um Zahlen und die sagen: So und so ist das. Wir haben den sichersten Standort gefunden. Das hält mich nachts nicht wach. Man muss das aber irgendwie zusammenbringen mit einer Gefühlslage in der Bevölkerung, mit einer Prägung, mit Angst vor gewissen Dingen, mit einem gewissen Unwohlsein, und hier wird es interessant: Wie können wir die technische, wissenschaftliche Faktenlage mit einer gewissen Demut nicht nur kommunizieren, sondern den Menschen auch dabei helfen, sie zu verarbeiten und einzuordnen? Das ist die grosse Herausforderung für uns.

Was hält Sie denn nachts wach?
Andere Aspekte der Sicherheit. Die Betriebssicherheit etwa, während des Baus, mit Verkehr, mit Abläufen beim Bau oder auch dann im Lager drin. Solche Dinge beruhen nicht einfach auf Wissenschaft, sondern auf dem Verhalten von den Menschen, auf Regeln. Das führt eigentlich wieder zurück zur Frage, warum wir überhaupt ein Tiefenlager bauen: Weil wir viel besser voraussagen können, was die Geologie in einer Million Jahre macht, als was wir als Menschen in zwanzig Jahren machen.

«Ich habe eine privilegierte Position»: Nagra-CEO Matthias Braun schätzt die Breite seiner Aufgabe.
Der Jahrhundertpodcast

Lieber hören, statt lesen?


1 o7a8113Dieses Interview entstand im Rahmen der dritten Ausgabe des Jahrhundertmagazins «500m+» der Nagra. Hannes Hug interviewte die Protagonistinnen und Protagonisten im Treffpunkt der Nagra in Stadel – der Gemeinde, in der die Oberflächenanlage des Tiefenlagers gebaut werden soll.

Zehn spannende Gespräche ermöglichen neue Perspektiven auf das Tiefenlager. Zu hören ist der Jahrhundertpodcast auf der Website des Jahrhundertmagazins 500m+ oder überall, wo es Podcasts gibt.

 

Ist das Tiefenlager eigentlich einfach das Beste, was man heute tun kann im Hinblick auf die nähere und fernere Zukunft?
Man hat sich ja eine ganze Menge Alternativen angeschaut. Es gibt einen breiten, internationalen wissenschaftlichen Konsens: Tiefenlagerung in einer geologisch stabilen Schicht ist zumindest im Moment alternativlos.

Dieses Endlager wird es wahrscheinlich noch geben, wenn es die Schweiz als Land, so wie wir sie heute kennen, nicht mehr gibt. Was denken Sie, wie sieht es hier in ein paar tausend Jahren aus?
Ich kann darüber spekulieren, wie es in ein paar Millionen Jahren aussieht. Wir Geologen rechnen in Millionen. In ein paar tausend Jahren wird es wahrscheinlich nicht so wahnsinnig anders aussehen als heute, was die Landschaft betrifft. Wir können ruhig annehmen, dass der Rhein noch am gleichen Ort durchfliesst, dass die Alpen noch am gleichen Ort stehen und auch den Jura wird es noch geben. Weiter in der Zukunft tut sich dann aber einiges, wir sind etwa wissenschaftlich sicher, dass es weitere Eiszeiten geben wird, dann wird die Schweiz unter dem Eisschild verschwinden. Dann kann es durchaus auch sein, dass Flüsse ihren Lauf ändern. Ein ganz verrücktes Szenario, aber auch das hat es in der Vergangenheit schon gegeben, ist, dass das Mittelmeer austrocknet. Dann entsteht bei Marseille ein tausend Meter hoher Wasserfall, und dies wiederum führt zu Rückwärtserosion. Das heisst, die Rhone könnte sich wieder verbreitern; vielleicht fliesst das Wasser dann plötzlich wieder ins Mittelmeer. Solche Dinge sind alle denkbar in der ferneren Zukunft. Das klingt wie Science-Fiction, aber es ist eben genau unser Job, solche Szenarien durchzuspielen, damit wir sagen können: Jawohl, dieses Tiefenlager ist dann immer noch sicher.

Wir führen das Gespräch mitten in Stadel, dort also, wo das Tiefenlager gebaut werden wird. Wie schaffen Sie es, alle Leute ins Boot zu holen?
Ich glaube vor allem durch viel Dialog. Und am Schluss, natürlich, müssen wir auch einfach realistisch sein: Man kann nicht immer alle mit ins Boot holen. Ich habe aber das Gefühl, die Voraussetzungen hier sind sehr gut. Weil man miteinander redet. Und weil man sich auch kennt. Und solange es so weitergeht, dass man miteinander redet und sich eben auch noch besser kennenlernt, dann sind wir auf einem guten Weg.

Ich habe mitbekommen, dass bei Informationsveranstaltungen oft relativ wenige Menschen auftauchen. Ist das etwas, was Sie ein bisschen frustriert?
Ich glaube, man muss auch realistisch bleiben. Das Tiefenlager ist erstens noch weit weg und zweitens ist es nicht das grösste Problem der Menschheit. Ausserdem ändert sich die Aufmerksamkeit für das Projekt auch von Phase zu Phase. Ich glaube, man sollte mit denen reden, die gerade Interesse haben, die in dieser Phase interessiert sind. Vielleicht sind das in der nächsten Phase andere. Als Geologe lernt man vor allem, dass die Welt dynamisch ist. Dinge wachsen, Dinge fallen zusammen, irgendwann bildeten sich die Alpen, und irgendwann wird es keine Alpen mehr geben. Und ich glaube, diese Dynamik, diese Beweglichkeit, das ist auch ein Zeichen des Fortschritts.

Vor Ihnen liegt eine Schuhschachtel. Ich möchte Sie bitten, einen Zettel herauszufischen. Darauf steht eine Frage.
Ich habe «Erledigt sich alles von selbst?» gezogen. (lacht) Es gibt ja die berühmte Management-Regel: Nichts machen, ist das Beste. Die meisten Probleme erledigen sich eben von selbst. Und als Geologe hat man das Gefühl, es erledigt sich alles von selbst, man muss nur genug lang warten. (lacht) Ich glaube, die grösste Kunst ist es, zu wissen, wann man etwas tun muss und wann eben nicht.

Zum Schluss möchte ich Ihnen, wie allen Interviewgästen, folgende Frage stellen: Wenn Sie im Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, eine Anregung, ein Leitspruch, egal was: Was würde auf diesem Zettel stehen?
Ich glaube, es würde eine Frage draufstehen. Vielleicht: «Wenn ihr das findet, wie sieht es aus?» Wir überlegen uns jetzt alle diese Szenarien, wir sichern uns gegen alle diese Möglichkeiten ab, aber wie ist es dann wirklich? Die Auflösung des Rätsels sozusagen. Mich nimmt es wunder, wie die ganze Geschichte dann wirklich ausgeht.

«Wenn ihr das findet, wie sieht es aus?»: Nur zu gerne würde der Nagra-CEO wissen, wie das Tiefenlager in einer Million Jahre genau aussieht.

Matthias Braun ist 1968 geboren, aufgewachsen in Basel und hat physikalische Chemie und Mineralogie studiert. Er war lange für Erdölunternehmen in Italien, Grossbritannien, Holland und im Nahen Osten tätig und ist seit bald vier Jahren CEO der Nagra.

Bilder: Maurice Haas

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