Interviewserie «Aussenblick»:
In der losen Interviewserie «Aussenblick» sprechen wir mit Menschen, die eine spannende Sichtweise auf das Thema Atommüll haben, aber nicht Teil der Entsorgungsinitiative in der Schweiz sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Personen für oder gegen Atomkraft sind. Die Nagra ist energiepolitisch neutral. Den Auftakt macht das Interview mit der deutschen Wissenschaftshistorikerin Dr. Anna Veronika Wendland.
Die deutsche Wissenschaftlerin Dr. Anna Veronika Wendland hielt bei der Nagra einen Kurzvortrag zu unterschiedlichen Kommunikationsstrategien beim Bau kerntechnischer Anlagen im Vergleich mehrerer Länder. Eine gute Gelegenheit für ein Gespräch.
Frau Wendland, Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren als Wissenschaftshistorikerin mit dem Thema Kernkraft und der Endlagerproblematik. Welche Unterschiede beobachten Sie bezüglich der Kommunikation in der Schweiz und anderen Ländern?
Anna Veronika Wendland: Politik, Traditionen und die Kommunikationskultur von Gesellschaften beeinflussen, wie das Problem der Endlagerung gelöst wird. Finnland und Schweden sind egalitär orientierte Demokratien, die früh auf eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gesetzt haben. In Finnland wird die Kernenergie positiv wahrgenommen. Das liegt auch am Vertrauen zu den Experten und dem Gefühl, genügend beteiligt zu sein. Die Schweiz ist eine Konsensdemokratie. Es gibt dort eine Tradition des gemeinsamen Entscheidens über Parteigrenzen hinweg. Am Ende könnte das Tiefenlagerprojekt sogar durch eine Volksabstimmung legitimiert werden. Deutschland tat sich lange Zeit schwer, anständige Modelle für eine gesellschaftliche Beteiligung aufzubauen. Die Kommunikation entsprach eher dem Sender-/Empfängerprinzip. Jetzt läuft der Prozess komplex und holprig, aber er läuft. In der Ukraine ist es nochmal ganz anders. Dort gibt es zwar keine gewachsene Tradition der Öffentlichkeitsbeteiligung, dafür entstand über die Kernanlagen eine hohe lokale Identifikation durch die soziale Erfahrung.
Trotz Tschernobyl?
Die meisten glauben, dass ein Unfall in einem Kernkraftwerk das grösste Risiko sei. Niemand würde darauf kommen, dass die schrecklichsten Radioaktivitätsunfälle bei der mutwilligen Zerstörung einer Strahlenquelle passierten. Die IAEA registrierte schlimme Unfälle mit alten Strahlenquellen aus irgendwelchen Krankenhäusern oder aus der Explorationsdiagnostik, weil zum Beispiel irgendwer eine Strahlenquelle verschrottet, ohne um die Gefahr zu wissen. Darum ist in Kernkraftwerken ungeheuer viel reguliert.
Anders als in westlichen Gesellschaften entstanden bei den sehr grossen Kernkraftwerken in Osteuropa regelrechte Werksstädte, in denen die Identifikation mit den Anlagen wegen der engen Verflechtung von Anlage und Stadt hoch war. Auch assoziiert man Kernenergie mit staatlicher Souveränität und Stärke. Tschernobyl wird als Versagen der sowjetischen, nicht der heutigen Kerntechnik wahrgenommen.
Unter Kriegsbedingungen kommt hinzu, dass die Kernenergie so wie die Eisenbahn das Land zusammenhält. Während die konventionelle Stromerzeugung stark zerstört ist, ist das Land fast völlig auf die gut bewachten AKW zurückgeworfen.
Zur Person:
Dr. Anna Veronika Wendland ist eine vielseitige Historikerin und Forscherin. Sie ist Forschungskoordinatorin am Herder-Institut in Marburg. Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten intensiv mit den Themen Kernenergie und Umweltgeschichte. Wendland bezeichnet sich selbst als «Energobloggerin» und «Ecomodernistin» und ist in den Bereichen Science, Technology & Society Studies aktiv.
Die Wissenschaftlerin schreibt über Kernreaktoren, Osteuropa und insbesondere Kernreaktoren in Osteuropa, wobei sie komplexe technologische und gesellschaftliche Themen für ein breites Publikum zugänglich macht. 2022 erschien Wendlands Sachbuch «Atomkraft? Ja bitte!». Sie engagiert sich für eine Kombination aus Erneuerbaren und Kernenergie.
Die Forscherin hielt bei der Nagra in Wettingen einen Kurzvortrag mit dem Titel «Bauen gegen die Angst» zu Erfahrungen mit Kommunikationsstrategien beim Bau kerntechnischer Anlagen.
«Politik, Traditionen und die Kommunikationskultur von Gesellschaften beeinflussen, wie das Problem der Endlagerung gelöst wird»
Dr. Anna Veronika Wendland, Wissenschaftshistorikerin
Hat der Mensch Probleme mit der Risikowahrnehmung?
Risikoeinschätzung ist tatsächlich ein Problem. Ein Alltagsrisiko der Strahlung, wie zum Beispiel durch das radioaktive Erdgas Radon im eigenen Haus, wird massiv unterschätzt, während gleichzeitig das Risiko durch Emissionen durch Kernkraftwerke massiv überschätzt wird.
Warum ist das so?
Weil das Kernkraftwerk mit einem Image der Bedrohung daherkommt. Dieses Image wurde kulturell erlernt. Es ist kein Instinkt. Kaum jemand hat irgendwas einzuwenden gegen Röntgen oder gegen andere kerntechnische Diagnostikformen oder gegen Heilmethoden wie Bestrahlung, zum Beispiel gegen Krebs. Das gilt als sicher. Daher sollte man sich bewusst machen, dass Atomangst eine erlernte soziale Praxis ist, die man ändern kann, wenn man mit den Leuten anders kommuniziert.
Wie?
Es ist vorteilhaft, wenn man zum einen mit der Bevölkerung auf Augenhöhe kommuniziert, und andererseits selbstbewusst auftritt – im Sinne von: Wir wissen, was wir tun, und wir wissen, dass wir eine gute Lösung haben.
«Junge Leute beschäftigen sich mit Sachen, von denen sie meinen, dass sie ihre Zukunft ganz konkret betreffen»
Dr. Anna Veronika Wendland
Eine repräsentative Umfrage in der Schweiz zeigte, dass der Grad der Information unter anderem vom Alter abhängt: Fast die Hälfte der jüngeren Generation hat sich mit dem Thema der Atommüllentsorgung noch nicht beschäftigt. Woran liegt das?
Anfänglich war die Anti-Atomkraftbewegung vor allem eine Jugendbewegung – zumindest in Deutschland. Diese Generation des Atomprotests wurde jedoch älter – und es kam nichts nach. Irgendwann galt das Thema durch die Atomausstiegspolitik gesellschaftlich auch als erledigt. Und junge Leute beschäftigen sich nicht mit erledigten Themen. Die beschäftigen sich mit Sachen, von denen sie meinen, dass sie ihre Zukunft ganz konkret betreffen. Viele der jungen Leute der Generation Klimakrise, mit denen ich gesprochen habe, wussten nicht mal mehr, dass in Deutschland noch Kernkraftwerke im Betrieb waren. Die hatten das Thema schon für irgendwie erledigt gehalten, auch weil sie gar nicht mehr involviert wurden. Die Jüngeren beschäftigen sich womöglich jetzt – also die politisch eher Linksstehenden – mit der Klimakrise. Die grosse Mehrheit der weniger politischen jungen Menschen hat vor anderen Dingen Angst. Zum Beispiel, dass sie womöglich ihren Lebensstandard nicht halten können, oder dass sie nicht dasselbe erreichen werden wie ihre Eltern.
Wie könnte man die Jüngeren für das Thema interessieren?
Beim Thema Endlagerung verhält es sich ähnlich wie beim Problem des Klimawandels. Auch beim Klimawandel haben wir es mit Langzeitprozessen zu tun. Wir wissen alle, dass selbst wenn wir jetzt alles stoppen und ändern, es sehr lange dauert bis dieses träge System sich irgendwann zu unseren Gunsten neu einpendelt – erst lange nachdem unsere Enkel gestorben sind oder unsere Urenkel. Das Denken in Langfrist-Kategorien ist der Klimadebatte genauso eigen wie dem Denken in der Endlagerdebatte. Womöglich könnte man zum Beispiel gerade Jugendliche ansprechen, die sich in der Klimabewegung engagieren, und sagen: Wisst ihr eigentlich, dass wir, weil die Kernenergie eigentlich ein Beitrag zum Klimaschutz ist, auch für den Atommüll Verantwortung übernehmen müssen? Und das zweite Argument wäre, dass dieses Vorhaben zumindest die nächsten zwei, drei Generationen als Bau- und Betriebs- und Verschlussgenerationen beschäftigen wird. Und es kann auch eine Menge Arbeitsplätze geben, die für die Jugend möglicherweise interessant werden. Wer in der Region lebt, wird mit dieser Anlage leben, und deren Kinder und Enkel werden das vielleicht auch noch.
Was wäre ihr persönliches Rezept für ein erfolgreiches Endlagerprojekt?
Das Endlager muss durch seine technische Ausrüstung und Auslegung überzeugen. Dieses technische Objekt muss man dann einfach, transparent und überzeugend vermitteln. Nur mit den behördlichen und gesetzlichen Bewilligungen kann es erfolgreich sein. Es muss ein umfangreiches Regelwerk erfüllen und die Normenseite abdecken. Auf der anderen Seite muss es aber auch soziotechnisch erfolgreich sein. In der Forschung hat man dafür einen schönen Begriff entwickelt: «social licence to operate», die soziale Betriebsgenehmigung. Das bedeutet, dass sich irgendwann die Leute für diesen Betrieb einsetzen, oder ihn in ihrer Nähe akzeptieren – nicht nur, weil er ökonomisch wichtig ist für die Region, sondern weil das Unternehmen auch als Institution wirklich akzeptiert und angenommen wird. So wie das zum Beispiel in Wolfsburg mit dem VW-Werk der Fall ist.
Aber was wir auch brauchen, ist Rüstzeug gegen die Angst. Dazu gehört erstens nukleare Bildung. Doch Wissen alleine reicht nicht. Wir müssen die Menschen sozusagen bei ihren Werten abholen. Meistens entscheidet schon die Grundhaltung eines Menschen über seine Haltung zur Kerntechnik. Egalitär orientierte Menschen, z. B. Linke oder Grüne, sorgen sich mehr um die Natur und sind skeptisch gegenüber großtechnischen Anlagen, Experten und ihren Hierarchien. Libertär oder traditional eingestellte Menschen akzeptieren Herrschaft über die Natur und Expertenkulturen viel leichter. Man sollte mit diesem Wissen im Hinterkopf versuchen, alle Gruppen ins Boot zu holen und zu sagen: «Unsere Aufgabe ist eine Jahrhundertaufgabe, und die funktioniert nur, wenn die Anlage auch von der Bevölkerung akzeptiert wird. Deswegen werben wir um eure Akzeptanz.» Ich finde, wenn man das transparent macht, dann ist es in Ordnung.