«Die Frage der Sicherheit birgt Potenzial für Kontroversen»


Die Gesellschaft und der Untergrund: Rony Emmenegger forscht darüber, wie diese komplexe Beziehung verhandelt wird – und wie die Schweiz zur Überzeugung gelangt, dass die geologischen Bedingungen des Tiefenlagers sicher sind.

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Rony Emmenegger, Sie sind Politgeograph. Was tut ein Politgeograph?
Ein Politgeograph interessiert sich für das Zusammenspiel von Geografie und Politik, Gesellschaft und Raum, Mensch und Umwelt. Auch bei einem Tiefenlager geht es um die Mensch-Umwelt-Beziehung, beziehungsweise um die Beziehung der Gesellschaft an der Oberfläche und der Geologie im Untergrund.

Das hat wenig mit der Geografie zu tun, die man von der Schule kennt.
Richtig! Es geht nicht um Landkarten, Grenzen und Berge, sondern um gesellschaftspolitische Prozesse in ihrem geografischen Kontext. Die Frage ist: Was sind die räumlichen Rahmenbedingungen und Konsequenzen dieser Prozesse?

Ich habe folgenden Satz von Ihnen gelesen: «Für mich bedeutet die Beschäftigung mit Geografie nicht nur, akademisches Wissen über die Gesellschaften und die Natur da draussen zu produzieren, sondern auch Momente, Räume und Visionen zu schaffen, um die Welt zu verändern.» Wie tun Sie das?
Anspruch meiner Forschung ist es, eine bestimmte Perspektive auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen einzunehmen und damit eine Grundlage für eine gesellschaftliche Reflexion zu liefern. Im konkreten Fall, wie gesellschaftliche Prozesse mit geologischen Rahmenbedingungen zusammenhängen.

Sie leiten derzeit ein umfangreiches Nationalfondsprojekt, welches die Situation rund um das Tiefenlager erforscht. Mit welchen Fragen befassen Sie sich?
Das Projekt beleuchtet, wie der geologische Untergrund im Verlauf der heutigen Tiefenlagersuche einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, sichtbar und greifbar gemacht wird – und fragt nach den politischen Konsequenzen. In der Debatte wurde lange ignoriert, dass die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle nicht nur ein komplexes geowissenschaftliches Problem ist, sondern auch ein gesellschaftliches.

Inwiefern?
Die zentrale Hypothese meines Projekts lautet, dass der Erfolg oder Misserfolg eines Tiefenlagerprojekts nicht nur davon abhängt, ob das richtige Gestein gefunden wird und ob dies durch einen fairen Prozess geschieht. Zentral ist ebenso, ob man der Gesellschaft glaubhaft machen kann, dass der geologische Untergrund stabil ist und die sichere Tiefenlagerung für eine Million Jahre gewährleisten kann. Die Frage nach der Langzeitstabilität der Geologie lässt sich nicht abschliessend beantworten und hat darum Potenzial für gesellschaftliche Kontroversen.

Machen Sie auf Basis Ihrer Untersuchungen auch Empfehlungen an die Politik?
Nein, ich sehe meinen politischen Beitrag nicht darin, Empfehlungen abzugeben. Meine Rolle als Sozialwissenschaftler ist vielmehr beschreibend. Ich versuche stets, die Aussensicht zu wahren. Dies ist im Rahmen meiner Forschung gerade deshalb wichtig, weil ich mit vielen verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen politischen Hintergründen zu tun habe.

Wie kamen Sie auf die Idee, genau dieses Projekt einzureichen?
Ich habe nach Abschluss meiner Doktorarbeit begonnen, neue Themenfelder zu erschliessen – genau zu dem Zeitpunkt, als die Nagra mit den Tiefenbohrungen begann. Die Tiefbohrkampagne markierte einen Meilenstein in der Schweizer Endlagergeschichte. Mir wiederum wurde klar, dass beim Endlagerthema verschiedene meiner Interessen zusammenkommen. So begann ich, die Tiefenbohrungen intensiv zu verfolgen und zu analysieren.

Inwiefern waren die Bohrungen ein Meilenstein?
Mit den Bohrungen ab 2019 wurde der geologische Untergrund in der Nordschweiz an die Oberfläche geholt und in den Standortregionen das erste Mal tatsächlich sichtbar.

«In der Debatte wurde lange ignoriert, dass die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle nicht nur ein komplexes geowissenschaftliches Problem ist, sondern auch ein gesellschaftliches»: Politgeograph Rony Emmenegger.
Der Jahrhundertpodcast

Lieber hören statt lesen?


Ein schwarz-weisses Foto zeigt einen Mann mittleren Alters beim Sprechen in ein Studiomikrofon. Er sitzt an einem Holztisch in einem schallgedämmten Raum, trägt einen dunklen Anzug mit weissem Hemd und eine runde Brille. Um seinen Hals liegt ein grosses Studiokopfhörerpaar. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Papierseiten mit Text und ein Stift. Seine Hände sind offen und gestikulierend, was auf eine engagierte Gesprächssituation hindeutet – vermutlich ein Interview oder eine Podcastaufnahme. Im Vordergrund sind ein Audiomischgerät und das Anschlusskabel des Mikrofons sichtbar. Die Szene wirkt konzentriert, sachlich und professionell.Dieses Interview entstand im Rahmen der dritten Ausgabe des Jahrhundertmagazins «500m+» der Nagra. Hannes Hug interviewte die Protagonistinnen und Protagonisten im Treffpunkt der Nagra in Stadel – der Gemeinde, in der die Oberflächenanlage des Tiefenlagers gebaut werden soll.

Zehn spannende Gespräche ermöglichen neue Perspektiven auf das Tiefenlager. Zu hören ist der Jahrhundertpodcast auf der Website des Jahrhundertmagazins 500m+ oder überall, wo es Podcasts gibt.

Wie haben Sie die Tiefenbohrungen in Stadel wahrgenommen?
Als die Entscheidung für Nördlich Lägern kommuniziert wurde, war Geologie das omnipräsente Thema: Die Nagra sagte, die Geologie habe gesprochen; an der Pressekonferenz in Bern wurde ein Bohrkern gezeigt; der Gemeindepräsident wiederum meinte, man habe einfach eine krasse Geologie. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von der «Geologisierung der Debatte». In der Folge wurden dann aber vor allem oberflächliche Themen und insbesondere mögliche Abgeltungen diskutiert. Es zeigt sich eine klare Grenzziehung zwischen geologischen Fragen, welche die Sicherheitsexperten beurteilen, und oberflächlichen Fragen, mit denen sich die betroffene Region befasst. Oberflächlich ist hier nicht abwertend gemeint, sondern ganz konkret.

Können wir Menschen die Sicherheit bei dem derart komplexen Projekt wirklich einschätzen?
In seinem Buch über die Risikogesellschaft schreibt Ulrich Beck, dass die Produktion von Risiken Hand in Hand geht mit der Schaffung von Institutionen, die mit dem Risikomanagement beauftragt sind. Wir versuchen zu beherrschen, was wir generiert haben – bei der Atomenergie ist das der nukleare Abfall. Bei der Suche nach einem Endlager wurde zu Beginn grösstenteils mit Risikoanalysen gearbeitet. Erst später ging man dazu über, die Langzeitsicherheit zu betrachten und in den Vordergrund zu rücken.

Waren wir früher risikoaffiner? Oder einfach unwissender?
Mir geht es nicht um die Beurteilung, wie ein Individuum Sicherheit wahrnimmt. Vielmehr schaue ich den gesamtgesellschaftlichen, historischen Kontext an. Spannend ist, dass der Fokus auf Risiken erst mit der Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. Jahrhundert möglich wurde. Das hatte einen grossen Einfluss auf die Art, wie das gesellschaftliche Leben organisiert wurde.

Je mehr die Gesellschaft über Risiken weiss, desto risikoaverser wird sie?
In unserem Fachbereich ist etwas anderes zentral: Dass wir immer mehr Risiken eingehen, um mit Risiken klarzukommen, die wir selbst geschaffen haben. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Um das eigentliche Problem zu beheben, zieht man in Betracht, mit Geo-Engineering neue Risiken einzugehen. Das ist nicht eins zu eins übertragbar auf die Endlagerthematik, aber auch hier schafft man eine neue Ausgangslage, die wiederum mit neuen Risiken verbunden ist. So muss die Gesellschaft immer wieder neu entscheiden, welches Risiko welchen Stellenwert hat.

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Wie beurteilen Sie den Prozess der Endlagersuche in der Schweiz?
Wie viele andere Länder haben wir eine lange Geschichte der gescheiterten Endlagersuche. Die Devise lautete lange: Entscheiden, Ankündigen, Verteidigen. Dann wurde klar, dass der Top-Down-Ansatz bei der Endlagersuche keine Zukunft hat, weil der lokale Widerstand grösstenteils dem fehlenden Einbezug von Betroffenen geschuldet war. Im Verlauf der 1990er-Jahre wurde international vermehrt auf partizipative und prozessorientierte Verfahren gesetzt. In diesem Kontext steht auch die Entstehung des Sachplanverfahrens in der Schweiz, das die lokalen Akteure im Rahmen der Regionalkonferenzen einbindet. Das Sachplanverfahren war nicht der einzige Aspekt, um Vertrauen zu gewinnen – aber ein sehr zentraler.

Wie genau kam es zum Sachplanverfahren?
Der Sachplan von 2008 entstand infolge der gescheiterten Projekte in den 1990er-Jahren. Mit dem Kernenergiegesetz wurde 2003 das lokale Vetorecht für betroffene Regionen aufgehoben und mit einem fakultativen Referendum ersetzt – einer Abstimmung also. Zugleich wurde lokale Partizipation im Rahmen des Sachplanverfahrens möglich. Diese Konstellation führt zu einer spannenden Frage: Was heisst Partizipation, wenn man mitreden, aber nicht mitbestimmen kann?

Wie lautet Ihre Antwort?
Durch das Sachplanverfahren ist Partizipation über weite Strecken gewährleistet. Bezüglich raumplanerischer Fragen oder der Platzierung der Oberflächenanlagen konnten Vorschläge intensiv diskutiert werden. Bei Sicherheitsfragen und der geologischen Beurteilung ist Partizipation schwieriger umzusetzen. Sie wurde weitestgehend auf das Bereitstellen von Informationen reduziert – was wichtig ist, aber auch für Kritik gesorgt hat.

Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, welche wäre das?
Ich glaube, ich würde nichts schreiben. Ich würde versuchen, mit Materialien zu experimentieren und dann vielleicht einen Gegenstand einlagern, der sich später beim Berühren auflöst – um das Denken der Person herauszufordern, die ihn findet.

«Die Devise lautete lange: Entscheiden, Ankündigen, Verteidigen. Dann wurde klar, dass der Top-​Down-​Ansatz bei der Endlagersuche keine Zukunft hat.»

Dr. Rony Emmenegger ist Politgeograph und untersucht mit dem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt «Politische Geologie der Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle», wie im Zuge der Suche nach einem entsprechenden Tiefenlager in der Schweiz die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem geologischen Untergrund verhandelt wird.

 

Bilder: Maurice Haas / Nagra

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