Der Zahn der Zeit: Nagt er auch am Endlager?


Das Tiefenlager für radioaktive Abfälle muss vor Erosion geschützt sein. Damit künftige Eiszeitgletscher und Flüsse dem Lager nicht gefährlich nahekommen, hat die Nagra viel geforscht.

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Wir bewegen, verändern uns ständig. Derweil scheint die Landschaft um uns herum so zu bleiben, wie sie seit jeher war. So münden zum Beispiel die Flüsse Thur, Töss oder Glatt seit Menschengedenken an den gleichen Stellen in den Rhein.

Doch der Schein trügt: Vor Millionen von Jahren floss das Wasser der Nordschweiz noch Richtung Nordosten und schliesslich ins Schwarze Meer. Später floss das Wasser in entgegengesetzter Richtung ins Mittelmeer. Und erst danach floss es, wie noch heute, über den Rhein in die Nordsee.

Im unteren Tösstal zwischen Pfungen und der Tössegg hat sich die Töss tief in den felsigen Untergrund eingeschnitten. Bei dem grauen Gestein handelt es sich um rund 20 Millionen Jahre alte Meeresablagerungen.

Flüsse und Landschaften verändern sich also sehr wohl. Nur läuft diese Veränderung in der Regel so langsam ab, dass der Mensch sie nicht wahrnimmt. Dieser Wandel in Zeitlupe wird weitergehen – auch für die nächsten eine Million Jahre.

Das ist der Zeitraum, in dem das Tiefenlager für radioaktive Abfälle möglichst dichthalten muss. So kann die strahlende Hinterlassenschaft auf ein Mass zerfallen, das für Mensch und Umwelt ungefährlich ist. Dafür darf das Lager in gut 800 Metern Tiefe allerdings von aussen nicht gestört werden.

Was aber, wenn sich künftige Flüsse und Gletscher so tief in den Untergrund einschneiden, dass sie den Abfällen gefährlich nahe kommen? Im schlimmsten Fall erodieren sie das Gestein über dem Lager so stark weg, dass Atommüll freigelegt würde. Oder wenn sie das Gesteinspaket von heute 800 auf unter 200 Meter Dicke abhobeln, wäre der Opalinuston, in dem das Lager gebaut werden soll, nicht mehr so dicht.

Aletschgletscher im Wallis: Nach der letzten Kaltzeit zogen sich die Gletscher aus dem Mittelland zurück in die Alpen.

 

 

Kies und Sand als Schleifmittel

Vor gut zwei Millionen Jahren begann das Eiszeitalter – und das dauert bis heute an. Denn es besteht aus einem Wechsel von kalten und warmen Phasen. Aktuell leben wir in einer Warmzeit. Seit Beginn des Eiszeitalters sind Gletscher aus den Alpen über ein Dutzend Mal ins Schweizer Mittelland vorgestossen, allerdings unterschiedlich weit. Manchmal bis in die Region Nördlich Lägern, wo die Nagra das Tiefenlager bauen will.

Bei solchen Vorstössen haben Eis und Schmelzwasser tiefe Täler in den Untergrund gegraben und riesige Mengen an Kies und Sand abgelagert. Im Gletschereis und Flusswasser mitgeführte Steine verstärkten die Erosion wie ein Schleifpapier. Die bislang letzten Eiszeitgletscher zogen sich vor etwa 12’000 Jahren in die Alpen zurück.

Kies und Sand wirken wie ein Schleifmittel: Hier an der Thur ist der felsige Untergrund (Meeresablagerungen) erodiert worden.

Eine der Hauptursachen für den Vorstoss der Gletscher sind Schwankungen in der Umlaufbahn der Erde um die Sonne. In 50’000 bis 60’000 Jahren könnte die nächste Kaltzeit anbrechen. Wegen des menschengemachten CO2-Ausstosses könnte es aber auch deutlich länger dauern. Und ob die nächsten Eiszeitgletscher erneut bis Nördlich Lägern vorstossen, ist ungewiss.

Wann auch immer: Wie tief wird die Erosion gehen? Um diese Frage möglichst genau zu beantworten, studiert die Nagra die Entwicklung der Landschaft der letzten gut zwei Millionen Jahre. In dieser Zeit haben Eiszeitgletscher und Flüsse die heute noch zu findenden Spuren hinterlassen. Dazu gehören etwa Ablagerungen von Schotter.

Die grösste Gletscherausdehnung in der Schweiz während des Höhepunkts der letzten Eiszeit vor rund 24`000 Jahren. Visualisierung: Swisstopo

 

 

Von der Vergangenheit auf die Zukunft schliessen

Werden solche Gesteinsablagerungen kartiert und datiert, lässt sich die Erosionsgeschichte wie aus einem Archiv nachzeichnen. Und daraus können wiederum Szenarien für die Zukunft entwickelt werden. So kann abgeschätzt werden, wie rasch sich ein Fluss oder Gletscher in den Untergrund graben wird. Es wird also aus der Vergangenheit auf die – wahrscheinliche – Zukunft geschlossen.

Viele Faktoren beeinflussen, wie stark Gletscher oder Flüsse in die Tiefe gehen. Diese Einflussgrössen müssen bekannt sein, um Erosionsszenarien zu entwickeln. Ein feuchteres Klima mit mehr Regen zum Beispiel erhöht die Wassermenge und damit die Erosionskraft von Flüssen. Umgekehrt bremst eine härtere Gesteinsschicht die hobelnde Wirkung eines Gletschers.

Blick auf den Höhenzug Irchel: Die nahezu horizontale Ebene zuoberst besteht aus Ablagerungen der ersten Kaltzeit vor gut zwei Millionen Jahre. Spätere Eiszeitgletscher haben die Ablagerungen um den Irchel herum um mehr als 300 Meter wegerodiert - bis etwa auf das heutige Niveau des Rheins am Fusse des Irchels.
Wie im Kleinen, so im Grossen: Bei Ebbe fliesst das Meerwasser über diese Rinne im Schlick ab. Gut zu erkennen ist, wie das Wasser sich dabei in den Untergrund einschneidet.

Der wichtigste Faktor ist die Veränderung der sogenannten Erosionsbasis. Was ist damit gemeint? Ein Gewässer fliesst von seiner Quelle A bis zur Mündung ins nächste Gewässer B. Also in einen anderen Fluss, einen See oder das Meer: Das ist die jeweilige Erosionsbasis.

Diese Basis bewirkt zweierlei. Zum einen «versucht» das Fliessgewässer, zwischen A und B ein möglichst gleichmässiges Gefälle durch Erosion zu schaffen. Zum anderen gräbt sich der Fluss nicht tiefer ein als die Erosionsbasis im Punkt B. Ein Beispiel: Die Töss mündet an der Tössegg in den Rhein – tiefer kann sich die Töss nicht eintiefen. Weil sonst würde die Töss ja von dort aus aufwärts in den Rhein fliessen.

Ein langsamer Prozess: Dieser kleine Seitenbach der Töss frisst sich tief in den Fels und schafft dabei ein steiles Tobel.

Unter Gletschern kann das sehr wohl geschehen. Denn sie können sich noch tiefer in den Untergrund einschneiden. Unter der schweren Eismasse kann Wasser den felsigen Untergrund wegerodieren und dabei quasi aufwärts fliessen. Das ist möglich, weil das Wasser wegen der Eislast unter Druck steht und so über eine Gegensteigung nach oben gepresst wird.

Durch Bewegungen in der Erdkruste kann sich der Untergrund eines Flusses heben oder senken. Wegen der anhaltenden Alpenfaltung hebt sich auch das vorgelagerte Mittelland ein bisschen. Drückt der Untergrund nach oben, schneiden sich Flüsse stärker ein. Als würde ein Brot von unten in ein Messer gedrückt. Die langzeitige Hebung beträgt zwar nur etwa 0,1 Millimeter pro Jahr, aber in einer Million Jahre sind das 100 Meter.

Das Gegenteil geschieht bei Basel, wo der Oberrheingraben beginnt. Der Graben ist entstanden durch Brüche in der Erdkruste. Das Gebiet zwischen dem östlichen und dem westlichen Bruch, wo der Rhein fliesst, sinkt ab. Damit nimmt das Gefälle des Flusses zu, sodass die Erosion flussaufwärts und in den Rheinzuflüssen stärker wird.

Wie stark sich Flussläufe verändern können, zeigt ein Beispiel aus der Standortregion des Tiefenlagers. Einst floss der Rhein südlich der heutigen Thurmündung westwärts durchs Rafzerfeld. In der letzten Kaltzeit aber schüttete ein Eiszeitgletscher an seiner Stirnseite einen Wall aus Schotter auf. Damit war der alte Weg des Flusses blockiert. Der Rhein musste nach Süden ausweichen und schnitt sich tief in den Untergrund ein.

Blick vom Schwarzwald hinab auf den Oberrheingraben: Im Hintergrund sind die Vogesen zu sehen. Durch den Grabenbruch und das Absinken des mittleren Bereichs wurden die beiden Mittelgebirge auf der Seite in die Höhe gehoben.
Die Moränen (orange) nördlich von Rüdlingen versperrten dem Rhein den Weg nach Westen durchs Rafzerfeld. So war der Fluss gezwungen, nach Süden auszuweichen. Dabei schnitt er sich tief in den Untergrund ein.

Die Erosionskraft des Rheins könnte in Zukunft aus einem anderen Grund zunehmen. Heute wirkt der Bodensee wie eine sogenannte Sedimentfalle: Schlamm, Sand und Kies sinken auf den Seegrund und fehlen somit flussabwärts als natürliches Schleifmittel. Das verringert die Erosion des Rheins. Übrigens: Weil der Bodensee viel Sediment zurückhält, ist der Rhein selbst bei Hochwasser klar, wenn er den See verlässt.

Doch in 20’000 bis 40’000 Jahren wird der Bodensee mit Sediment aufgefüllt sein, vor allem aus dem Alpenrhein. Und ab dann dürften grössere Mengen Gestein flussabwärts geschwemmt werden und so die Erosion verstärken. Zumindest vorübergehend. Denn sobald mehr Gestein kommt, als der Rhein forttragen kann, lagert sich auf seinem Grund eine schützende Schicht ab, welche die Erosion des felsigen Untergrundes unterbricht.

Der Alpenrhein mündet in den Bodensee und transportiert viel Sediment mit sich, das den See trübt. Grobes und feines Gesteinsmaterial setzt sich anschliessend auf dem Seegrund ab.

Der grösste Schutz in Nördlich Lägern

Die Nagra untersucht solche Flussgeschichten. Die Untersuchungen helfen ihr, die künftige Erosion im Gebiet des Tiefenlagers abzuschätzen. Die Szenarien reichen von wahrscheinlichen bis praktisch ausgeschlossenen Entwicklungen. Für die Sicherheitsberechnungen werden selbst unwahrscheinliche Worst Case-Szenarien berücksichtigt.

Ob in Jura Ost, Zürich Nordost oder in Nördlich Lägern: Die Berechnungen zeigen, dass ein Tiefenlager in allen drei zuletzt untersuchten Standortregionen mehr als genug vor Erosion durch Gletscher und Flüsse geschützt wäre. In Nördlich Lägern, wo die Nagra das Lager bauen will, ist die Sicherheitsreserve allerdings am grössten. Denn der beste geologische Bereich liegt dort am tiefsten im Untergrund – und ist somit am besten vor dem Zahn der Zeit geschützt.

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