
«Es sollte nach etwas Kultisch-Religiösem aussehen»
Wie kann sichergestellt werden, dass das Tiefenlager auch in Tausenden von Jahren nicht angerührt wird? Archäologin Andrea Schaer plädiert dafür, eine monumentale Stätte zu schaffen. So, wie es die Menschen aller Epochen immer wieder getan haben.
Andrea Schaer, Sie sind Kulturerbemanagerin. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Das tönt grossartig, nicht wahr? Das Kulturerbe – archäologische Funde, historische Bauten, aber auch immaterielles Kulturerbe wie Traditionen und Überlieferungen – wird heute anders als noch vor ein paar Jahrzehnten betrachtet. Früher hat man das Kulturerbe als etwas gesehen, das der Vergangenheit angehört, heute hat man einen gegenwarts- und zukunftsbezogenen Blick auf die Zeugnisse der Vergangenheit. Wir sehen sie als Ressource, die qualitätssteigernd ist für unser heutiges Leben.
Inwiefern steigert das Kulturerbe unsere Lebensqualität?
Wir gehen gerne in Städte mit historischen Bauten, die uns das Gefühl geben, dass da mehr dahintersteckt als die letzten zwanzig, dreissig Jahre. Landschaften, die geprägt sind von Burgruinen und historischen Wegen und Brücken, sind Heimat, hier spüren wir unsere Wurzeln. Das Kulturerbe ist aber auch Teil einer Landschaft, in der geplant und gebaut wird. Es ist Teil von Städten, in denen gelebt wird. Es genügt daher nicht, wenn man einfach nur forscht. Wir müssen diese Ressource in aktuelle Diskussionen und Planungsverfahren einbringen, damit sie nicht unter die Räder kommt, weil alle anderen Interessen zu überwiegen scheinen. Das, was Kantonsarchäologinnen und Denkmalpfleger tun, ist Kulturerbemanagement.
Der grosse Unterschied ist, dass wir heute viel mehr Spuren hinterlassen als vor 4000 Jahren: Wolkenkratzer, Friedhöfe, Tiefenlager. Würden Sie sich wünschen, in 4000 Jahren als Archäologin wiedergeboren zu werden?
Es wäre sicher spannend, wobei ich mich wohl nerven würde über all die Red-Bull-Dosen und Cola-Flaschen, die weltweit gleich aussehen. Kolleginnen und Kollegen aus England haben kürzlich in einem Bericht darüber geschrieben, wie sie bei archäologischen Ausgrabungen einer Römerstätte auf Mikroplastik gestossen sind, der seit den 1980er-Jahren in die antiken Schichten eingesickert ist.
Wie macht man sich ein Bild von einem Gegenstand, wenn man keine Überlieferung dazu hat? Es ist doch immer eine Annahme oder eine Mutmassung.
Zum einen gibt es die Beobachtung, dass sich Material übereinander ablagert, das Älteste ist zuunterst. Früher hat man Gebäude nicht wie heute vollständig abgebrochen, die Ruinen der römischen Villa befanden sich unter der mittelalterlichen Siedlung. Alles rückzubauen wäre ein unnötiger Aufwand gewesen, man hat einfach ausplaniert und gebaut. Wenn man dann beispielsweise noch eine Münze findet, etwa von Kaiser Tiberius, dann erhält man einen absoluten Anhaltspunkt, da die Münze nicht vor der Regierungszeit des besagten Kaisers verloren werden konnte. Zudem gibt es naturwissenschaftliche Methoden wie die C14-Methode, mit der man das Alter von organischem Material bestimmen kann. Bei Holz kann man anhand der Jahresringe sogar die Jahreszeit bestimmen, in der die Bäume gefällt wurden. Auf diese Weise erhält man ein Chronologiegerüst. Da die Kulturentwicklung in gewissen Regionen sehr ähnlich war, kann man Vergleiche anstellen.
Welche Rückschlüsse können von der Vergangenheit auf die Zukunft gezogen werden?
Archäologie befasst sich mit den menschlichen Hinterlassenschaften. Wir versuchen nachzuzeichnen, wie Menschen reagiert haben, auch bei Veränderungen der Umwelt, etwa des Klimas. Man geht heute davon aus, dass das Römische Reich nicht, wie oft kolportiert, wegen der Dekadenz der Gesellschaft untergegangen ist. Es begann schon ein Jahrhundert vorher, als das Klima kälter wurde und es zu mehr Niederschlag kam, wodurch sich die wirtschaftlichen Bedingungen änderten. Die Menschen haben andere Siedlungsplätze aufgesucht, andere Produkte hergestellt, neue Materialien genutzt. So erhalten wir ein Bild, wie der Mensch auf Veränderungen in seinem Umfeld reagiert. Diese Perspektive können wir auch in die aktuelle Diskussion einbringen.

Lieber hören, statt lesen?
Dieses Interview entstand im Rahmen der dritten Ausgabe des Jahrhundertmagazins «500m+» der Nagra. Hannes Hug interviewte die Protagonistinnen und Protagonisten im Treffpunkt der Nagra in Stadel – der Gemeinde, in der die Oberflächenanlage des Tiefenlagers gebaut werden soll.
Zehn spannende Gespräche ermöglichen neue Perspektiven auf das Tiefenlager. Zu hören ist der Jahrhundertpodcast auf der Website des Jahrhundertmagazins 500m+ oder überall, wo es Podcasts gibt.
Was kann die Archäologie beitragen, wenn es um ein Tiefenlager geht?
Ein Tiefenlager ist nochmals ein paar Schuhnummern grösser. Hier geht es darum, dass wir heute etwas planen, von dem wir wissen, dass es zum Wohle der Menschen für einen unglaublich langen Zeitraum in Ruhe gelassen werden sollte. Wir konstruieren ein Monument, das in die Zukunft wirkt – in einer Dimension, in der man das bewusst noch nie getan hat. Selbst in einer Million Jahren sollte noch verstanden werden, dass man dieses komische Ding da tief unten in der Erde in Ruhe lassen soll. Die Archäologie kann dazu einen Beitrag leisten, weil wir uns mit Stätten befassen, die bis heute Bestand haben und nachwirken. Sie lösen bei uns einen gewissen Respekt aus, auch wenn wir oft nicht wissen, was einst die Absicht hinter dem Bau dieser Stätten war und was die Menschen damals in ihrer Nähe empfanden. Ich denke an die Pyramiden oder Stonehenge, die Steinkreise, die es weltweit gibt. Es sind Orte, die uns bis heute Respekt einflössen, die man in Ruhe lässt und nicht einfach demontiert, weil sie etwas besonders ausstrahlen. Selbst die Römer, die teils sehr rücksichtslos waren, wenn es um die Beschaffung von Baumaterialien ging, haben sich nicht an diesen Stätten bedient. Die Archäologie kann mit ihrem Wissen zu menschlichen Verhaltensweisen in der Vergangenheit dazu beitragen, die «besonderen Stätten» der Zukunft zu kennzeichnen und zu vermitteln.
Die zeitliche Komponente haben Sie bereits erwähnt. Ein anderer Aspekt ist die Frage, wie man kommuniziert, dass hier etwas Gefährliches vergraben ist. Wie würden Sie das tun?
Es gibt verschiedene Strategien. Kolleginnen und Kollegen aus Skandinavien und den USA, wo solche Lager schon existieren oder in Planung sind, haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ein Vorschlag ist, die Tiefenlager wie kultisch-religiöse Stätten zu gestalten. Es soll ein Ort entstehen, der wie von höheren Kräften geschaffen und ausgewählt scheint und eine spezielle Kraft in sich trägt, die derart respekteinflössend ist, dass die Menschen diesen besonderen Ort seiner Besonderheit wegen unangetastet belassen. Stark religiös und emotional aufgeladene Orte wurden durch die Menschheitsgeschichte oft über Generationen und Jahrhunderte überliefert. Es gibt diverse Beispiele von prähistorischen Kultstätten, die später auch für die Römer heilig waren, wo 500 Jahre später eine Kapelle gebaut wurde und heute noch eine Kirche steht. Solche Orte haben Bestand. Die eingangs erwähnten Kolleginnen und Kollegen aus Schweden oder den USA empfehlen daher, so langlebige Installationen wie ein Tiefenlager als Kultorte erscheinen zu lassen.
Weitere Interviews aus dem Jahrhundertmagazin
Gibt es konkrete Beispiele, wie man das angeht?
Eine Idee ist es, den Standort eines Tiefenlagers mit nicht vergänglichen Landmarkern zu markieren. Dies in einer Form, die Menschen einerseits animiert, die besondere Markierung zu unterhalten, damit sie über Jahrtausende weiterbesteht. Geeignet wären wohl eher Steine, vielleicht eine Anlage ähnlich Stonehenge. Beton ist für so langfristige angelegte Bauten nicht geeignet: heutiger Beton hat eine zu begrenzte Lebensdauer. Neben der Markierung müsste auch eine mit dem Ort verbundene Tradition oder Überlieferung geschaffen und verankert werden, die suggeriert, dass man von diesem Ort die Finger lassen sollte.
Inwiefern ist ein Tiefenlager auch ein Kulturerbe?
Kulturerbe ist etwas, das immer nur retrospektiv definiert wird. Was wir heute schaffen, wird erst in Zukunft Kulturerbe sein – oder als solches wahrgenommen. Also auch das Tiefenlager, wobei wir auch nicht wissen, ob künftige Generationen und Zivilisationen noch das Konzept von Kulturerbe kennen werden und diesem Respekt entgegenbringen. Wir müssen irgendwie erreichen – oder provozieren–, dass künftige Menschen mit dem Standort des Tiefenlagers etwas verbinden, das sie zu einem bewussten, respektvollen Umgang mit dieser Stätte animiert.
Es muss konkret und verständlich sein, sollte aber auch eine bestimmte Warnung enthalten und gleichzeitig kein Rätsel sein. Ist diese Mehrschichtigkeit nicht fast eine Quadratur des Kreises?
Die ist es, da der Faktor Mensch berücksichtigt werden muss. Menschen sind neugierig und oft erstaunlich lernresistent. Zudem ist ein Menschenleben kurz im Vergleich zur «Lebensdauer» des Tiefenlagers. Schon bald lebt also niemand mehr, der den Bau des Lagers und dessen Betriebszeit selbst erlebt hat. Irgendwann können unsere digitalen Dateien nicht mehr gelesen werden und der letzte handgezeichnete Plan ist auch schon längst nicht mehr lesbar. So verschwindet Wissen. Unsere Grossmütter kannten jedes Kraut im Wald, wir heute sind uns vielleicht nicht einmal mehr sicher, ob das nun Holunder ist, der da blüht. Mit diesem Wissensverlust müssen wir rechnen, insbesondere wenn wir von einer Perspektive von Jahrhunderttausenden ausgehen müssen. Darum müssen wir ein Narrativ schaffen, das – auch wenn das Wissen zum faktischen Hintergrund verloren ist – Bestand hat. Wir wissen nicht, wie in 10’000 Jahren auf die Vergangenheit geschaut wird.
«Stark religiös und emotional aufgeladene Orte wurden durch die Menschheitsgeschichte oft über Generationen und Jahrhunderte überliefert.»
Andrea Schaer, über die respekteinflössenden Kräfte, die historische Bauten auf die Menschen ausüben
Was hat Sie persönlich unter Tag geführt, warum haben Sie begonnen zu graben?
Ich habe zu Hause einen Zettel mit einem Gedicht, das mir ein ehemaliger Nachbar zu meinem vierten Geburtstag geschrieben hat. Es heisst «Warum» und geht darum, dass die Kleine (ich) immer am Gartenzaun steht und bei allem wissen will, warum es so ist. Ich will wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Irgendwo musste ich mit der Suche beginnen. Anfangs waren es Scherben von Blumentöpfen, die ich im Garten entdeckt habe. Ich will die Welt, in der ich lebe, und was ich um mich herum sehe, in einen grösseren Kontext setzen. Was mir gefällt, sind die Geschichten im Verborgenen.
Was war Ihr schönster Fund bisher?
Die Bronzehand von Prêles, die 2017 gefunden wurde. Die Hand wurde zwar nicht von mir selbst entdeckt. Ich durfte mich aber während meiner Tätigkeit beim Archäologischen Dienst Bern mit ihr beschäftigen und die ersten Forschungen leiten. Die Bronzehand ist der verrückteste und rätselhafteste Fund, mit dem ich mich je befasst habe. Mir war die Hand dabei aber immer etwas ungeheuer.
Wie alt ist diese Bronzehand?
3500 Jahre.
Weiss man heute, was es mit dieser Hand auf sich hat?
Sie befand sich im Grab eines Mannes, der eine sehr bedeutende Person gewesen sein muss, um sich eine Extravaganz wie diese Hand leisten zu können. Es gibt verschiedene Hypothesen, welche Funktion die Hand gehabt haben könnte. War sie eine Prothese, ein Machtsymbol oder hatte sie eine rituelle Funktion – oder gar alles in einem? Wir wissen es nicht und werden es vermutlich nie wissen – nach «nur» 3500 Jahren.
Wir befinden uns im Anthropozän, die Zeit, die primär vom Menschen geprägt wird. Was macht das mit uns, auch im Hinblick auf die Zukunft?
Wann das anthropozäne Zeitalter begann, ist in der Wissenschaft umstritten. Geologinnen und Geologen lassen das Anthropozän mit den Atombombenversuchen in den 1950er-Jahren beginnen. Kulturhistorikerinnen und Kulturhistoriker sehen den Beginn mit der Industrialisierung und der Massenproduktion und damit auch mit dem Beginn des massiven CO2-Ausstosses. Aus Perspektive der Archäologie kann auch die Entstehung der Landwirtschaft als erster Eingriff des Menschen in seine natürliche Umwelt gesehen werden. Heute sehen wir, in welchen Dimensionen menschliches Handeln der Vergangenheit das Leben auf der Erde und auch natürliche Prozesse und das Klima beeinflusst.
Letzte Frage, die ich allen stelle: Wenn Sie im geplanten Tiefenlager eine Botschaft hinterlassen könnten, was stünde auf Ihrem Zettel?
In ein paar Jahrtausenden kann man die Botschaft nicht mehr lesen … Es müsste also etwas Bildliches sein, das klarmacht, wer hinter dieser sonderbaren Einrichtung steckt und was die Motivation zum Bau der Anlage war. Das würde ich hinterlassen – oder vielleicht doch das Gedicht meines ehemaligen Nachbarn.

Die Archäologin und Kulturwissenschaftlerin Andrea Schaer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der NIKE Nationale Informationsstelle zum Kulturerbe und assoziierte Forscherin und Dozentin am Institut für Archäologische Wissenschaften der Universität Bern. 2015 gründete sie die die Firma Archaeokontor und bietet Dienstleistungen im Bereich Archäologie, Kulturgeschichte und Kulturvermittlung an.
Bilder: Maurice Haas / Nagra
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