
Wann beginnt die Endgültigkeit? Nach heutiger Planung in 100 Jahren, also 2125. Dann soll das Schweizer Tiefenlager für radioaktive Abfälle komplett verschlossen werden. Zwischen dem Lager in 800 Metern Tiefe und der Erdoberfläche wird die letzte Verbindung bewusst gekappt. Damit endet auch die 50 Jahre dauernde Beobachtungsphase.
In dieser Phase sind zwar schon alle Abfälle eingelagert. Aber das Lager wird noch ein halbes Jahrhundert offengehalten, um es zu beobachten und zu überwachen. Die Idee dahinter: Weitere Erkenntnisse sammeln, um die bisherigen Annahmen über die Sicherheit des Lagers zu bestätigen. Und um die Abfälle nötigenfalls ohne grossen Aufwand zurückholen zu können.
Doch warum überhaupt soll der Atommüll in so grosser Tiefe gelagert werden? Die Überzeugung dahinter ist weltweit die gleiche: Die Geologie in der Tiefe ist zuverlässiger als die Gesellschaft an der Oberfläche. Denn bis die hoch radioaktiven Abfälle für Mensch und Umwelt auf ein ungefährliches Mass zerfallen sind, braucht es eine stabile Umgebung.
Nur: Für den Bau, Betrieb und die Beobachtung des Endlagers braucht es sehr wohl stabile gesellschaftliche Verhältnisse. Doch was, wenn es die plötzlich nicht mehr gibt? Die staatliche Ordnung kollabiert, bevor das Lager verschlossen ist?
Düstere Zukunftsszenarien
Das sind nicht Fragen aus einem apokalyptischen Film – sie werden in einem Expertenbericht tatsächlich behandelt. So hat das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) 2018 den Bericht «Verschlussmassnahmen in Krisensituationen» veröffentlicht. Eine erste Studie dazu gab die Atomaufsichtsbehörde schon gut zehn Jahre früher in Auftrag.
In dem Bericht des Ingenieur- und Beratungsunternehmens Basler & Hofmann ist von einer «Gefahr» die Rede: In der langen Zeit bis zum Verschluss des Endlagers könnte die Kontrolle über die Abfälle «verloren gehen», etwa durch einen Krieg. Darum empfehlen die Autorinnen und Autoren, das Tiefenlager «möglichst bald nach Abschluss der Einlagerung» zu verschliessen. Eine allfällige Rückholung der Abfälle sei später noch immer möglich.
Dies sei eine «robuste Sicherheitsmassnahme für unsichere Zeiten», wie sie in dem Bericht weiter schreiben. Und sie raten, dann auf die Beobachtungsphase zu verzichten, wenn deren Nutzen nicht eindeutig belegt werden könne. «Je länger der Prozess für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle dauert, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Gesellschaft im Verlaufe des Prozesses die Kontrolle verlieren könnte.» Übrigens verzichtet Finnland ganz auf eine solche Phase.
In dem Bericht werden Krisenszenarien skizziert, die zu einem Kontrollverlust über das Atomendlager führen könnten – sieben Beispiele:
• In Europa herrscht Krieg oder in der Schweiz Bürgerkrieg, sodass die Arbeiten am Tiefenlager eingestellt werden müssen.
• Eine globale Pandemie hat auch auf die Schweiz massive gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen. Nach ihrem Abflauen ist die Gesellschaft nicht mehr in der Lage, sich wie vorgesehen um das Tiefenlager zu kümmern.
• Ein IT-Krieg schädigt die Schweiz so stark, dass sie sich nicht mehr um das offene Tiefenlager kümmern kann.
• Die künstliche Intelligenz (KI) hat sich massiv entwickelt und ist dem Menschen überlegen. Sie kontrolliert die Gesellschaft und entscheidet für sie. Die Entsorgung radioaktiver Abfälle hat dabei keine Priorität.
• Mächtige Grosskonzerne lösen den Staat ab und verfolgen eigene Interessen. Die Entsorgung von Atommüll gehört nicht dazu, das vorgesehene Geld verwenden sie anders.
• Wegen einer langen Krise wird das Geld der Schweiz sehr knapp. Der Entsorgungsfonds wird zweckentfremdet, sodass das Tiefenlager nicht mehr betrieben werden kann.
• Das Entsorgungsprojekt dauert so lange, dass der Schweiz das nötige Know-how abhandenkommt. Es fehlen die Fachleute, um mit den Abfällen weiter richtig umzugehen.

Die mit Abfall gefüllten Stollenabschnitte sollen fortlaufend versiegelt werden. Damit bleiben jeweils nur wenige Endlagerbehälter offen zugänglich. Doch wann genau das Lager komplett verschlossen wird, das ist noch nicht in Stein gemeisselt.
Zwar plant die Nagra heute mit einer 50-jährigen Beobachtungsphase. Wann diese Phase aber tatsächlich enden soll, das ist ein politischer Entscheid. So wird der Bundesrat den endgültigen Verschluss anordnen. Tut er das rascher als geplant, könnte das auf eine unsichere Weltlage hindeuten.
Wie funktioniert das Tiefenlager?
Titelfoto: iStock / iStock-Fotografie-ID: 1434079935
Zweites Foto: iStock / iStock-Fotografie-ID: 1139285882
Ähnliche Beiträge
«Es sollte nach etwas Kultisch-Religiösem aussehen»
Wie kann sichergestellt werden, dass das Tiefenlager auch in Tausenden von Jahren nicht angerührt wird? Archäologin Andrea Schaer plädiert dafür, eine monumentale Stätte zu schaffen. So, wie es die Menschen aller Epochen immer wieder getan haben.
«Dass man Benny Brennstab blöd findet, kann ich nachvollziehen»
Thomas Meyer war der erste Kulturgast in Stadel. Der Schriftsteller ist entschiedener Atomkraftgegner und gleichzeitig fasziniert vom Projekt Endlager und findet: Diese Widersprüche muss man aushalten können.