Arbeitsbericht NAB 12-05

Analyse des rezenten Spannungsfelds der Nordschweiz

Der rezente in situ Spannungszustand der Erdkruste ist eine wichtige Feldgrösse, um das Reaktivierungspotenzial von tektonischen Störungen und somit auch die künftige strukturelle Entwicklung einer Region über längere Zeiträume zu prognostizieren. Im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager wurden ausgehend von der World Stress Map Datenbank 2008 für die Schweiz und angrenzende Gebiete die Datensätze der Orientierung der grössten horizontalen Spannung SH kritisch überprüft, aktualisiert und mit neuen Datensätzen ergänzt. Die revidierte Datenbasis enthält 107 neue Datensätze. In Bezug auf die geologischen Tiefenlager sind insbesondere die 15 Datensätze aus 11 neuen Bohrlokationen aus Tiefen bis 2.5 km von grosser Bedeutung sowie die Re-Analyse von sieben älteren Nagra-Bohrungen, um eine nach gleichen Kriterien evaluierten und somit in sich konsistente Datenbank für die Schweiz zu erhalten. Insgesamt sind in der Schweiz und den angrenzenden Gebieten nun 567 Datensätze verfügbar von denen 289 eine zuverlässige Datenqualität haben.

Das Spannungsmuster der Schweiz zeigt einen langwelligen Trend mit einer mittleren SH Orientierung von 155° ± 30°; in der Nordschweiz ist die mittlere SH Orientierung 160° ± 21° (n = 128). Nordöstlich des Bodensees ist SH in Richtung N-S orientiert und rotiert entlang der alpinen Front von Ost nach West graduell um etwa 40° zu einer WNW-ESE Orientierung in der Westschweiz. SH steht im Wesentlichen senkrecht zum Streichen der Alpen bzw. parallel zur Richtung der Plattenkonvergenz Adria – Eurasien und zum Gradienten der Moho. Hauptbeiträge des rezenten Spannungsfelds sind die Topographie der Alpen und der Moho (laterale Dichtekontraste) und wahrscheinlich zu einem geringeren Anteil die anhaltende Plattenkonvergenz. Diese Hauptbeiträge bestimmen massgeblich das Spannungsmuster in der Nordschweiz. Die Orientierung von SH steht annähernd senkrecht zu den Randstörungen des Nordschweizer Permokarbontrogs und wirkt somit einer Reaktivierung als Abschiebung oder Blattverschiebung entgegen. Im Gegensatz dazu ist SH in Bezug auf die herzynischen und rheinischen Störungen im Mittel mit ~ 30° bzw. ~ 50° orientiert. In den oberen 7 – 8 km dominiert ein Blattverschiebungsregime, während in grösseren Tiefen überwiegend ein Abschiebungsregime vorherrscht. Daten mit Abschiebungsregime zeigen eine grössere Häufigkeit im Dinkelbergblock und in der Region des Bodensee-Hegau-Graben.

Der grossräumige Trend des Spannungsmusters als auch die mittlere SH Orientierung sind weitgehend unabhängig davon, ob man sich auf eine Subdatenbasis aus dem Grundgebirge oder dem Deckgebirge beschränkt. Man erkennt in den Mittelwerten geringe Unterschiede von 10 – 15°, die jedoch statistisch nicht signifikant sind, da die Standardabweichung der SH Mittelwerte je nach Datenbasis 15 – 25° beträgt. In den Bohrungen in Basel (BS1/OT2), Zürich (GTB Sonnengarten-1) Weiach und Herdern-1 ist eine Rotation der mittleren SH Orientierung mit der Tiefe statistisch signifikant. Als mögliche Entkopplungshorizonte kommen der salinar ausgebildete mittlere Muschelkalk und der Gipskeuper in Frage. In Weiach ist die SH Rotation jedoch oberhalb des Opalinustons detektiert. In den anderen Bohrungen ist keine ausgeprägte Rotation mit der Tiefe belegt, was auf eine wirksame mechanische Kopplung hinweist. Bei einer mechanischen Entkopplung würden lokale Spannungsquellen einen grösseren Einfluss erhalten, so dass eine höhere Variabilität der SH Orientierungen möglich wäre. Insgesamt kann aber die Frage nach einem möglichen Entkopplungshorizont, der das Spannungsmuster heute signifikant beeinflusst nicht beantwortet werden. Die Interpretation, dass die Daten eher für eine heute wirksame mechanische Kopplung sprechen, ist spekulativ.