Technischer Bericht NTB 93-15

Endlager für kurzlebige AbfälleVorbericht zur Standortwahl

Nach Abschluss einer rund zehnjährigen Evaluation ist die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) in der Lage, dem Bundesrat einen Standort für das Endlager kurzlebiger Abfälle vorzuschlagen. An diesem sollen die Untersuchungen weitergeführt und – bei Bestätigung der Eignung – das Endlager auch gebaut werden. Der Bundesrat wird über den Vorschlag im Verfahren zur Erteilung der Rahmenbewilligung befinden, das nach der Vorbereitung der Gesuchsunterlagen eingeleitet wird. Der Entscheid des Bundesrates muss anschliessend noch von der Bundesversammlung genehmigt werden.

Dem Bundesrat soll als Endlagerstandort Wellenberg vorgeschlagen werden

An allen vier evaluierten Standorten sind gleichartige Untersuchungen durchgeführt worden. Aufgrund der erzielten Resultate fiel die Wahl der Nagra auf den Wellenberg in der Nidwaldner Gemeinde Wolfenschiessen. Wellenberg bietet im direkten Vergleich zu den übrigen untersuchten Standorten eindeutige Vorteile sowohl was den Nachweis der geologisch bedingten Langzeitsicherheit betrifft, als auch unter dem Aspekt der umweltgerechten Realisierung.

An den nicht gewählten drei Standorten Bois de la Glaive, Gemeinde Ollon (VD), Oberbauenstock, Gemeinde Bauen (UR) und Piz Pian Grand, Gemeinden Rossa und Mesocco (GR), werden die Untersuchungen eingestellt. Für keinen der Standorte bestehen sicherheitsrelevante Ausschlussgründe – sie werden deshalb bis zur Realisierung des Endlagers als Reservestandorte geführt.

Breit angelegtes Evaluationsverfahren

Das Verfahren der Nagra zur Standortevaluation begann bereits 1978. Aus den ursprünglich 100 Standortoptionen wurden in mehreren Zwischenschritten insgesamt vier potentielle Standorte in drei verschiedenen Wirtgesteinen gewählt. Die Tabelle «EVALUATION» (Seite iv) fasst das Verfahren kurz zusammen.

Zur Beurteilung der Standorte benötigt man geologische und hydrogeologische Angaben. Diese können zum Teil bereits durchgeführten Untersuchungen entnommen werden, zum Teil müssen sie durch spezielle Abklärungen neu erarbeitet werden. Für die Aufnahme eines Standorts in die Evaluation sind deshalb sowohl Vorkenntnisse vom Bau bestehender unterirdischer Anlagen (Tunnels, Stollen) von Bedeutung, als auch die technischen Möglichkeiten zur Durchführung von Sondierungen (Explorierbarkeit).

Unterschiedliche Vorkenntnisse – unterschiedlicher Untersuchungsaufwand

Bei den Standorten Bois de la Glaive, Oberbauenstock und Piz Pian Grand bestanden – zum Teil aus bereits bestehenden unterirdischen Anlagen – gute bis sehr gute Vorkenntnisse, die Explorierbarkeit von der Erdoberfläche ist aber teilweise stark erschwert. Am Standort Wellenberg verfügte man bei der Aufnahme der Abklärungen über keine durch Tunnelbauten abgesicherten Vorkenntnisse, die Annahme eines grossen Wirtgestein­Volumens war zunächst hypothetisch. Der Preis für das Aufholen des Kenntnisrückstandes bestand in einem wesentlich umfangreicheren Sondierprogramm als an den übrigen drei Standorten – das am Wellenberg dank der günstigen Topographie aber auch abgewickelt werden konnte.

An den beiden Standorten Oberbauenstock und Piz Pian Grand konnten die vorgesehenen Untersuchungen bereits 1988 abgeschlossen werden. Bis 1993 wurde auch an den übrigen Standorten ein Kenntnisstand erzielt, welcher zur vergleichenden Beurteilung der Eignung ausreichend ist, auch wenn dazu erhöhter Aufwand an Arbeit (Wellenberg) und Zeit (Bewilligungsverfahren Bois de la Glaive) nötig war. Der Kenntnisrückstand am Wellenberg wurde durch mehrere Tiefbohrungen aufgeholt – am Bois de la Glaive musste zur Durchführung der erforderlichen Untersuchungen der zeitaufwendige Weg einer temporären Enteignung beschritten werden.

Ergebnisse der Untersuchungen

Zur Bewertung der Standorteignung werden mehrere Kriterien herangezogen, die unterschiedliches Gewicht haben. Priorität haben die Kriterien der radiologischen Sicherheit (Sicherheit während des Einlagerungsbetriebs und Langzeitsicherheit nach dem Verschluss des Endlagers). Nichterfüllen von Anforderungen gilt hier als Ausschlussgrund. Die Langzeitsicherheit wird durch die geologische Situation beeinflusst – wenn man beispielsweise die Lagerkavernen nicht ausserhalb von ungünstigen Gesteinsbereichen anordnen kann, so muss der entsprechende Standort aufgegeben werden.

Zusätzlich müssen bei der Bewertung die Aspekte der bautechnischen Machbarkeit (felsmechanische Parameter) sowie der Umwelt und der Raumplanung berücksichtigt werden (Einhaltung einzelner Umweltverordnungen, Transportfragen, Zonenordnung, Landwirtschaft u. ä.). Die Ergebnisse der Evaluation sind in der Tabelle «BEURTEILUNG» (Seite v) in äusserst gekürzter Form zusammengefasst.

Gewichtige Unterschiede

Keiner der vier Standorte musste aufgrund der geologischen Situation aus der Evaluation ausgeschlossen werden. Es gibt jedoch gewichtige Unterschiede bezüglich der Risiken für negative geologische Überraschungen bei künftigen Untersuchungen, wo Wellenberg dank den guten Explorationsmöglichkeiten besonders gut abschneidet. Am anderen Mergel-Standort, dem Oberbauenstock, wird das verfügbare Gesteinsvolumen nur als genügend bis knapp beurteilt, mangels Reserve könnte hier das Ausweichen möglichen schlechteren Gesteinspartien erschwert sein.

Am Bois de la Glaive konnte das prognostizierte Volumen des Gesteins u. a. gravimetrisch bestätigt werden, jedoch bereitet der Nachweis seiner sicherheitstechnischen Eignung Probleme. Angesichts besserer Alternativen besteht auch kein Anreiz, das Risiko der Korrosion von Beton und Metallen im aggressiven Sulfatgestein Anhydrit einzugehen. Ebenso besteht kein Grund, die Transportprobleme und die schlechtere Explorierbarkeit und Prognostizierbarkeit am Piz Pian Grand in Kauf zu nehmen.

Wellenberg: Vorteile im Vergleich zu den anderen Standorten

Wellenberg bietet Vorteile vor allem bezüglich des grossen Volumens von dichtem Mergelgestein, das eine grosse Flexibilität bei der optimalen Anordnung der Endlagerkavernen erlaubt. Die Ausdehnungsreserven werden es ermöglichen, beim Bau des Endlagers allfälligen weniger gut geeigneten Gesteinszonen auszuweichen. Dazu kommt eine gute Verkehrserschliessung durch Schiene und Strasse. Die bautechnisch weniger günstige Situation tritt unter diesen Umständen in den Hintergrund – der höhere Aufwand für die Realisierung der unterirdischen Anlagen muss angesichts der sicherheitsmässigen Vorteile verantwortet werden.

Wegen der Forderung nach der vergleichenden Beurteilung der potentiellen Standorte wird oft übersehen, dass das Evaluationsverfahren neben dem Vergleich primär die Wahl eines unter dem Aspekt der Sicherheit geeigneten Standorts sicherstellen muss. Dem Nachweis der Langzeitsicherheit in der für ein Rahmenbewilligungsgesuch erforderlichen Tiefe kommt am gewählten Standort deshalb grosse Bedeutung zu.

Dank der guten Explorierbarkeit konnte am Wellenberg ein hoher Kenntnisstand erzielt und ein entsprechend zuverlässiger Sicherheitsnachweis erbracht werden, so dass auch diese Forderung erfüllt ist.

Bundesrätliche Auflagen und politische Forderungen erfüllt

Die Standortwahl wurde unter Berücksichtigung der bundesrätlichen Auflage «möglichst vergleichbarer geologischer Aussagen» und der politischen Forderungen nach der Gleichbehandlung der Standorte getroffen. An allen Standorten ist ein Untersuchungsstand erreicht worden, der eine vergleichende Beurteilung der erdwissenschaftlichen und der übrigen Kriterien erlaubt. Dabei wurde den unterschiedlichen Vorkenntnissen zu Beginn der Arbeiten Rechnung getragen.

Die von Standort zu Standort unterschiedliche politische Akzeptanz verursachte zusätzlichen Zeitaufwand für rechtliche Schritte. Kein Standort musste aber aus politischen Gründen aufgegeben werden. Für die vom Bundesrat verlangten «konkreten Untersuchungen» am Bois de la Glaive benötigte die Nagra zusätzlich mehr als fünf Jahre, um auf dem Rechtswege sowie durch Verhandlungen mit der Gemeinde Ollon die Voraussetzungen für ihre Arbeiten zu schaffen.

Beschränkung auf kurzlebige radioaktive Abfälle

Das vorgesehene Endlager wird auf kurzlebige schwach- und mittelaktive Abfälle beschränkt. Darunter werden insbesondere radioaktive Abfälle aus dem Betrieb und dem späteren Abbruch der schweizerischen Kernkraftwerke sowie Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung verstanden. Ihre Aktivität wird durch Radionuklide mit Halbwertszeiten unter 30 Jahren bestimmt, der Gehalt an längerlebigen Nukliden liegt unter einem sicherheitsmässig unbedenklichen Wert.

Durch ein integrales Qualitätssicherungs­System wird sichergestellt. dass keine unzulässigen Abfälle eingelagert werden können.

Kontrolle des Endlagers vorgesehen

Das Gesetz verlangt, dass das unterirdische Endlager auch ohne Überwachung sicher sein muss. Die Nagra sieht für das Endlager zusätzlich Kontrollmöglichkeiten vor. Die verfüllten Kavernen können so lange überwacht werden, als der Zugangsstollen offen bleibt; das Umfeld kann zeitlich unbeschränkt kontrolliert werden. Die Überwachung stellt keinen Ersatz für ein ungenügend sicheres Konzept dar – sie hat keine aktive Sicherheitsfunktion und soll lediglich den letzten, für künftige Generationen sichtbaren Nachweis für die richtige Auslegung des Endlagers erbringen. Die Rückholung der Abfälle bleibt prinzipiell möglich. Im Interesse der Langzeitsicherheit werden aber keine Vorkehrungen zu einer technisch einfachen und kostengünstigen Rückholung getroffen, es wird bewusst ein höherer Aufwand in Kauf genommen.

Wie geht es weiter?

Als nächstes sieht die Nagra vor, die laufenden Arbeiten an der vollständigen wissenschaftlichen Berichterstattung abzuschliessen, damit die Sicherheitsbehörden des Bundes die Resultate beurteilen können. Im Verlaufe des Jahres 1994 soll die für ein Gesuch um die Erteilung der Rahmenbewilligung benötigte Dokumentation erstellt und das entsprechende Gesuch eingereicht werden. Vorher müssen noch die notwendigen juristischen Schritte unternommen werden, so vor allem die Gründung einer Bau- und Betriebsgesellschaft mit Sitz in der Standortgemeinde. Auch sollen die Fragen der Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen bereinigt und vertraglich festgelegt werden. Für das bundesrechtliche Bewilligungsverfahren wird mit einem Zeitbedarf von rund vier Jahren gerechnet. Bei optimaler Abwicklung könnte vor der Jahrhundertwende mit der Erstellung des Endlagers begonnen werden.