Technischer Bericht NTB 93-09

Kristall in-IGesamtsynthese der regionalen Untersuchungen zur Endlagerung hochaktiver Abfälle im kristallinen Grundgebirge der Nordschweiz

Die gegenwärtige Strategie der Nagra sieht die Entsorgung hochaktiver und langlebiger, mittelaktiver Abfälle in einem tiefliegenden geologischen Endlager vor. Das kristalline Grundgebirge der Nordschweiz wurde als potentielles Wirtgestein für ein derartiges Endlager ausgewiesen. 1981 wurde ein dreiphasiger Plan zu seiner geologischen Charakterisierung aufgestellt und eingeleitet. Kristallin-I umfasst eine Synthese der Resultate aus den kürzlich abgeschlossenen regionalen Felduntersuchungen der Phase I. Diese Synthese basiert weitgehend auf dem Endlagerkonzept, das im Projekt Gewähr von 1985 (PG'85; Nagra 1985) vorgestellt wurde. 1988 haben die schweizerischen Sicherheitsbehörden ihr Gutachten über Projekt Gewähr abgegeben; ihrer Meinung nach hat PG'85 die grundsätzliche technische Machbarkeit eines solchen Endlagers nachgewiesen und ausserdem gezeigt, dass das vorgestellte Endlagerkonzept für verglaste, hochaktive Abfälle (HAA) ausreichende Sicherheit gewährleisten kann. Die zur damaligen Zeit vorhandenen geologischen Daten waren jedoch beschränkt, weshalb die Behörden einen überzeugenderen Standortnachweis für die Endlagermöglichkeiten in der Schweiz verlangten. Seit 1988 wurden paralIeIl zu den hier behandelten Untersuchungen im kristallinen Wirtgestein auch sedimentäre Formationen erkundet.

Die Hauptziele von Kristallin-I sind:

  • Die Untersuchungen des PG'85 zu ergänzen und unter Berücksichtigung der jetzt vorhandenen, erweiterten geologischen Datenbasis auf den neuesten Stand zu bringen. Dies gilt ebenso für das verbesserte Verständnis der Mechanismen und Vorgänge, die für die Sicherheitsanalyse relevant sind.
  • Dokumentation und Zusammenfassung der nun abgeschlossenen Phase I, um so die Grundlage zur Auswahl potentieller Gebiete für ein Standortnachweis-Projekt zur Verfügung zu stellen.
  • Den aktuellen technischen Stand zur Entsorgungsplanung vorzulegen und Prioritäten für zukünftige Forschungsprojekte zu setzen.

Dieser Bericht bietet eine Übersicht über das Gesamtprojekt und wird durch zwei technische Syntheseberichte ergänzt: Der erste fasst die Resultate der geologischen Studien zusammen (Thury et al. 1994), der zweite dokumentiert die damit zusammenhängende Sicherheitsanalyse (Nagra 1994). Diese Syntheseberichte basieren wiederum auf einer grossen Anzahl tiefergehender Veröffentlichungen, von denen viele als Technische Berichte der Nagra (NTB) erschienen sind.

Die Auswahl des kristallinen Grundgebirges der Nordschweiz als mögliches Wirtgestein gründet vor allem auf folgenden Kriterien: gute Prognostizierbarkeit der geologischen Bedingungen über längere Zeiträume, potentiell günstige hydrogeologische Eigenschaften, geringe seismische Aktivität, Abwesenheit von abbaubaren Bodenschätzen sowie günstige mechanische und bautechnische Gesteinseigenschaften. Die regionale Begutachtung in Phase I umfasste umfangreiche seismische Untersuchungen sowie sieben eingehend untersuchte Tiefbohrungen (1300 – 2500 m).

Sowohl das direkte Untersuchungsgebiet als auch das nahegelegene Kristallin des Südschwarzwaldes wurden geologisch kartiert und hydrogeologisch/hydrochemisch untersucht.

Seit PG'85 wurde vor allem das geologische Verständnis des Grundgebirges vertieft und die Darstellung der daraus gewonnenen Daten in einer Geodatenbasis für die Sicherheitsanalyse verbessert. Dies gilt vor allem für folgende Aspekte:

  • Ein deutlich verbessertes tektonisches Modell der Region erlaubt die Beschreibung von zwei möglichen Standortgebieten (Gebiete West und Ost) sowie einen Einblick in die Verteilung von Hauptstörungen innerhalb dieser Gebiete, was sich in einem statistischen Modell niederschlug.
  • Basierend auf der Synthese von umfangreichen hydraulischen Messungen wurde ein neuer Satz hydrogeologischer Modelle entwickelt. Diese beziehen sich direkt auf das entwickelte Strukturmodell und sind mit den regionalen geochemischen und Isotopen-Messungen im Einklang.
  • Mit grossem Aufwand wurde eine detaillierte Charakterisierung aller wasserführenden Systeme in den Tiefbohrungen durchgeführt. Die Zusammenstellung der daraus gewonnenen Informationen ergab drei Klassen solcher Systeme. Diese Beschreibungen werden durch neue Literaturstudien ergänzt, um die wichtigsten Sorptions- und Matrixdiffusionseigenschaften dieser Fliesswege definieren zu können.
  • Die Ergebnisse aus hydrochemischen und Isotopen-Messungen wurden auf regionaler Basis zusammengestellt, um ein vernünftiges und einheitliches Bild der Grundwasserentwicklung als Folge der Wechselwirkungen zwischen Gestein und Wasser zu bieten; es stellt nicht nur die allgemeinen Fliessrichtungen des Grundwassers im Grundgebirge dar, sondern bildet ausserdem die Basis für die Definition der Referenzwässer in den zwei möglichen Standortgebieten.
  • Die Analyse der möglichen geologischen Entwicklung über längere Zeiträume hinweg untermauerte die zwei Rahmenszenarien des PG'85 vor allem in Hinsicht auf die Quantifizierung von zu erwartenden Geländehebungen, Erosionsvorgängen und Bewegungen entlang unterschiedlich grosser Störungszonen im betreffenden Gebiet mit einer Prognose bis zu einer Million Jahren.

Der Geosynthesebericht stellt alle bis zum jetzigen Zeitpunkt erhaltenen, wichtigen Informationen zusammen: Als Ganzes stärkt diese Information das Vertrauen in die in den verschiedenen Fachgebieten (Tektonik, Hydrogeologie, Geochemie, usw.) entwickelten Konzepte.

Basierend auf der erwarteten geologischen Struktur wurde ein Endlager-Layout konzipiert, in dem die Lagerbereiche der Stollen für HAA im geringdurchlässigen Kristallingestein zwischen subvertikalen, regionalen Störungen angelegt werden. Zum Beispiel würden für das Referenz-Abfallinventar (resultierend aus der geplanten 40­jährigen Betriebsdauer von 3 GW(e) installierter Kernkraftwerkleistung) 3 Lagerbereiche von jeweils 0.3 km2 ausreichen. In einer Referenztiefe von ca. 1000 m unter der Erdoberfläche wären die Einlagerungsstollen dann von mindestens 100 m geringdurchlässigem Wirtgestein, mehreren 100 m höherdurchlässigem Grundgebirge und hunderten von Metern Sedimenten überlagert. Die Endlagerplanung sieht auch Silos für die Einlagerung langlebiger mittelaktiver Abfälle vor, was aber im Rahmen von Kristallin-I nicht näher untersucht wurde.

In der strategischen Planung für die Abfallentsorgung der Schweiz werden auch alternative Szenarien für die Kernenergieproduktion sowie die Möglichkeit einer direkten Endlagerung künftig anfallender abgebrannter Brennelemente erwogen, was aber im Rahmen der Synthese Kristallin-I ebenfalls nicht näher diskutiert wird.

Wie im PG'85 dargelegt, werden zunächst Edelstahlkokillen mit verglasten HAA in massiven Stahlbehältern eingekapselt; diese werden horizontal in mit hochkompaktiertem Bentonit verfüllten Stollen eingelagert. Die für die Sicherheitsanalyse dieses Endlagerkonzeptes verwendeten Methoden und Ausgangsdaten haben sich seit PG'85 etwas weiterentwickelt:

  • Aufnahme einer Methodik zur Szenarienanalyse, die das Systemverständnis auf vollständige und nachvollziehbare Weise dokumentiert und eine logische Strukturierung der zahlreichen durchgeführten Berechnungen erlaubt.
  • Verbesserung der konzeptuellen Modelle im Hinblick auf eine realitätsnähere Darstellung der untersuchten Systeme. Dies gilt vor allem für die Struktur wasserführender Systeme im Wirtgestein als Basis für die Modellierung des Radionuklidtransports.
  • Ergänzung der für die Berechnungen benutzten Modellkette, insbesondere durch Einbeziehung der Rückhaltung von Nukliden im Bentonit und durch Abschätzung der nichtlinearen Sorption und des Kolloidtransports im Fernfeld.
  • Verbesserte Datensätze für Nuklidfreisetzungs- und Transportberechnungen (z. B. Löslichkeiten, Sorptionskoeffizienten, usw.).
  • Felsmechanische und thermische Berechnungen bestätigen das Endlagerkonzept und zeigen, wie relativ kleine Blöcke geringdurchlässigen Grundgebirges genutzt werden können.
  • Massnahmen zur Verbesserung der Qualitätssicherung: z. B. vollständig nachvollziehbare Berechnungsergebnisse oder Prüfung durch unabhängige Experten (Peer-Reviews).
  • Erheblicher Aufwand zur Verifizierung und Validierung der Modelle, oft im Rahmen internationaler Studien, durch Vergleich mit natürlichen Analoga und gezielte Experimente.
  • Frühere Reviews wurden aktualisiert, um die Ergebnisse der Sicherheitsanalysen mit denen von ähnlichen Endlagerprojekten oder von Studien anderer möglicher Umweltrisiken zu vergleichen.

Eine als Referenzfall bezeichnete Analyse mit eher konservativen Modellannahmen und Ausgangsdaten zeigt, dass die Spitzenwerte der Strahlendosen aus Radionuklidfreisetzungen –verursacht vor allem durch Cs-135 – um mehr als zwei Grössenordnungen kleiner als in den Richtlinien vorgeschrieben und somit 3 – 4 Grössenordnungen unter der natürlichen Strahlenbelastung in der Schweiz lägen. Innerhalb der ersten 10'000 Jahre werden effektiv keine Freisetzungen erwartet, und erst nach über 100'000 Jahren erreichen die geringen Freisetzungen ihre Spitzenwerte.

Das Gesamtverhalten des Endlagersystems wird vorwiegend durch das Nahfeld bestimmt; das Wirtgestein trägt entscheidend zum physischen Schutz der technischen Barrieren bei und soll einen relativ geringen Grundwasserfluss durch das Endlager sicherstellen. lm Referenzfall wird aufgrund der beschränkten verfügbaren Daten eine sehr konservative Beschreibung der Grundwassersysteme im Grundgebirge angenommen. Alternative Modelle weisen auch der Rückhaltung von Radionukliden in der Geosphäre eine wichtige Barrierenfunktion zu.

Durch Analyse einer Reihe von alternativen Szenarien wird einer gewissen Unsicherheit über das Langzeitverhalten des Endlagers Rechnung getragen. In einem speziellen "Robust-Szenarium" mit sehr konservativen Annahmen werden die Grenzbereiche der Parameter und Vorgänge abgeschätzt und beobachtet. Auch äusserst pessimistische Kombinationen konservativer Parameter und Modellannahmen führen nicht zur Überschreitung der behördlich vorgeschriebenen Dosiswerte.

ln den Resultaten des Projektes Kristallin-I zeigt sich das kristalline Grundgebirge noch als vielversprechendes Gestein für ein HAA-Endlager. Für die Phasen II und III wurde aus diesem Grund eine Untersuchungsstrategie zur Standortcharakterisierung sowohl von der Oberfläche aus als auch vom Untergrund her entwickelt. Mit Hilfe hochauflösender seismischer Untersuchungen und einer Anzahl von Schrägbohrungen sollen zunächst die wichtigsten Fragen zur lateralen Ausdehnung geeigneter Blöcke innerhalb des kristallinen Grundgebirges geklärt werden. Das Projekt «Entsorgungsnachweis» gibt mit dem Jahr 2000 den nächsten wichtigen Meilenstein im HAA­Programm vor. Um die Risiken einer Verzögerung oder unerwarteter geologischer Komplikationen zu reduzieren, sollen die Untersuchungen der Phase II auf ein Gebiet einer existierenden Tiefbohrung konzentriert werden, das günstige lokale Bedingungen erwarten lässt, wie z. B. Leuggern oder Böttstein.

Methoden und Datensätze des Projekts Kristallin-I bilden das Gerüst zur Analyse anderer Abfallarten, die in einem tiefliegenden HAA-Endlager eingelagert werden können (abgebrannte Brennelemente und verschiedene Arten langlebiger, mittelaktiver Abfälle), ebenso wie für die Einschätzung des Opalinustons als alternatives Wirtgestein. Der Referenzfall Kristallin-I stellt eine Vergleichsbasis für verschiedene Kombinationen von Abfalltypen und Wirtgesteinen dar.

Ein gut dokumentiertes Systemverständnis im Rahmen der Szenarienanalyse erlaubt die Identifizierung potentiell wichtiger Unsicherheiten ais Basis für die Entwicklung einer Liste von weiteren wichtigen Untersuchungszielen. lm Rahmen von Sensitivitätsstudien im Kristallin-I kann die Relevanz individueller Parameter beurteilt werden, um Untersuchungsprioritäten zu setzen. Darüberhinaus stellt die technische Dokumentation von Kristallin-I auch eine geeignete Informationsquelle für ein breiteres Publikum dar. Es wird immer wichtiger, die Bevölkerung in den Untersuchungsgebieten ausreichend zu informieren, da das HAA-Programm nun in eine Phase der Erkundung eines lokalen Standortes in Kristallin oder Opalinuston übergeht. Die Verbesserung der Akzeptanz in der Öffentlichkeit erfordert ein möglichst transparentes Vorgehen. Das Projekt Kristallin-I wurde speziell daraufhin geplant und wird eine Grundlage für zukünftige Studien dieser Art bilden.

Mit Hinsicht auf die langfristige Entwicklung einer nationalen HAA-Endlagerstrategie sind also folgende Punkte besonders zu berücksichtigen: erstens die Bestätigung der Eignung des Kristallins für weitere Untersuchungen, zweitens die Auswahl bevorzugter Standorte für diese Untersuchungen. Bezüglich dieser Standortwahl muss man sich jedoch vor Augen halten, dass es selbst bei positiven Untersuchungsergebnissen eher unwahrscheinlich ist, dass genau einer dieser Orte für ein Tiefenlager gewählt wird. Auf lokaler Ebene würde die Optimierung des Schachtzuganges im Rahmen eines Realisierungsprojektes sicherlich neue Gebiete einschliessen; auf regionaler Ebene ermöglicht der lange zur Verfügung stehende Untersuchungszeitraum auch die Wahl von alternativen Endlagerstandorten im kristallinen Grundgebirge; auf nationaler Ebene ist auch ein Endlager in Tongestein denkbar. Auf internationaler Ebene würden gemeinsame Endlagerprojekte offensichtliche Vorteile bieten. Obwohl Kristallin-I und das folgende Projekt Entsorgungsnachweis 2000 sicherlich nicht zum sofortigen oder kurzfristigen Bau eines HAA-Endlagers führen werden, bleibt es doch das Hauptziel, der Schweizer Bevölkerung einen Nachweis zu liefern, dass dies innerhalb unserer eigenen Grenzen möglich ist. Dies bleibt auch weiterhin ein wichtiges Ziel in unserer längerfristigen Strategie zur Endlagerung von radioaktiven Abfällen.