
Es ist das Jahr 3125. In einem alten Bauernhaus im Zürcher Unterland lebt eine Person. Im Garten vor dem Haus baut sie ihr eigenes Gemüse an, auf einer Wiese grasen Milchkühe. Das Wasser zum Trinken und Bewässern der Beete stammt auch von dort.
Unter dem Haus, in 800 bis 900 Metern Tiefe, lagern hoch radioaktive Abfälle. 1000 Jahre zuvor, also 2125, wurde das Endlager verschlossen. Ab jetzt, so die vorsichtige Annahme der Nagra, könnten die Endlagerbehälter aus Stahl allmählich undicht werden.
Keine 100-prozentige Sicherheit
Dieser Artikel handelt vom Umgang mit Ungewissheit. Wie wird sich das Atomendlager in hunderten, tausenden oder hunderttausenden von Jahren verhalten? Was wären die Worst-Case-Szenarien? Mit jahrzehntelanger Forschung und vielen Experimenten versucht die Nagra nach bestem Wissen und Gewissen, möglichst belastbare Antworten darauf zu finden. Eine absolute Gewissheit gibt es allerdings nicht. Aus dem Grund berücksichtigt sie in ihren Sicherheitsanalysen auch unvorstellbare Szenarien, denen konservative Annahmen zugrunde liegen. Damit können verbleibende Ungewissheiten abgedeckt beziehungsweise umhüllt und in den Analysen eingerechnet werden.
Mensch und Umwelt müssen vor dem strahlenden Abfall geschützt werden. Das ist das oberste Ziel des geologischen Tiefenlagers. Für die Person, die über dem Lager lebt, heisst das: Sie darf höchstens mit einer Strahlendosis von zusätzlich 0,1 Millisievert (mSv) pro Jahr belastet werden. Das ist ein sogenanntes Schutzkriterium, das vorgeschrieben ist.
Der Wohnort bestimmt die Dosis mit
Der Wert von 0,1 mSv ist etwa ein Fünfzigstel der jährlichen Belastung, der ein Mensch in der Schweiz durch natürliche Strahlung ausgesetzt ist. Das ist ein Durchschnittswert. Denn in Locarno etwa enthält das Gestein im Untergrund von Natur aus mehr Uran als beispielsweise in Zürich. Aus dem Grund ist die jährliche Strahlenbelastung in der Tessiner Stadt um etwa 0,5 mSv höher als in der Limmatstadt.
Die Nagra muss nachweisen, dass sie den Wert von 0,1 mSv einhalten kann. Entscheidend für den Schutz vor Strahlung sind die Sicherheitsbarrieren im Tiefenlager. Die sorgen dafür, dass strahlende Teilchen – die Radionuklide – nur in sehr kleinen und somit unschädlichen Mengen in die Umwelt gelangen.
Wie sicher ist sicher?
Die mit Abstand wichtigste Barriere ist der dichte Opalinuston. Direkt ober- und unterhalb dieser gut 100 Meter dicken Gesteinsschicht gibt es weitere tonhaltige Schichten, die ebenfalls zur Sicherheit des Lagers beitragen. Hinzukommen die technischen Barrieren in den Lagerstollen. Dazu gehören zum Beispiel die Stahlbehälter mit den hoch aktiven Abfällen drin. Oder die Materialien, mit denen die Lagerstollen am Ende aufgefüllt und versiegelt werden.
So funktioniert das Tiefenlager
So weit, so gut. Sicher? Was passiert, wenn die Sicherheitsbarrieren versagen? Wenn etwa in der Tiefe wider Erwarten das Gestein bricht und sich mitten durchs Tiefenlager ein Spalt auftut, Wasser eindringt? Oder wenn in ferner Zukunft ein Eiszeitgletscher die Erdoberfläche so stark abhobelt, dass der Atommüll freigelegt wird? Die Stahlbehälter viel früher durchrosten? Oder versehentlich durchbohrt werden, weil das Wissen über das Tiefenlager verloren gegangen ist?
Schreckensszenarien benennen und berechnen
Solche Fragen muten apokalyptisch an. Aber auch darauf muss die Nagra Antworten liefern. Wie geht sie vor? Die Kurzantwort: Sie rechnet selbst mit dem Schlimmsten. So entwickelt sie genau solche Szenarien, wie sich das Tiefenlager dereinst entwickeln könnte.
Am Anfang steht das wahrscheinlichste Szenario. Darin wird abgebildet, wie sich das Tiefenlager und seine Sicherheitsbarrieren am ehesten entwickeln werden. In dieses Modell fliessen Messdaten ein, die in den letzten Jahrzehnten durch Forschung und Experimente gewonnen worden sind. Dazu gehören zum Beispiel die Eigenschaften der Gesteine im Untergrund. Die Berechnungen der Nagra zeigen: Das Tiefenlager ist in diesem wahrscheinlichsten Szenario so sicher, dass das Schutzkriterium von 0,1 mSv um den Faktor 1000 unterschritten wird.
Radioaktivität auf dem Wasserweg
Doch was, wenn das Unwahrscheinliche eintritt? Dafür hat die Nagra alternative Sicherheitsszenarien entwickelt und durchgerechnet. Das Tiefenlager soll in der gut 100 Meter dicken Schicht aus Opalinuston gebaut werden. Direkt ober- und unterhalb dieses Tongesteins gibt es weitere Schichten, die auch tonhaltig sind. Damit tragen sie ebenfalls zum Einschluss der radioaktiven Abfälle bei.

Dass in diesen angrenzenden Gesteinsschichten Wasser fliesst, ist zwar eher unwahrscheinlich. In den Alternativszenarien wird aber genau das angenommen, denn: Völlig ausgeschlossen ist es nicht. Sobald sich Wasser im Gestein bewegt, können auf dem Weg radioaktive Teilchen aus dem Tiefenlager in die Umwelt gelangen.
Zwar noch nie beobachtet, aber…
Ein anderes, nicht auszuschliessendes Sicherheitsszenario: Das Gestein in der Tiefe ist so stark gebrochen, dass eine Spalte senkrecht durch das Tiefenlager verläuft. Schlimmer noch: Nicht nur Wasser fliesst durch diesen schmalen Hohlraum, er verbindet auch noch die wasserführenden Gesteinsschichten ober- und unterhalb des Opalinustons miteinander. So entstünde ein System von Pfaden, über das Radionuklide aus dem Endlager geschwemmt werden könnten. Dass über einen grösseren Bruch im Opalinuston Wasser fliesst, das ist zwar noch nie beobachtet worden. In ihren Sicherheitsanalysen nimmt es die Nagra trotzdem an.
Jenseits des Unwahrscheinlichen liegt das Hypothetische. Also etwas Ausgedachtes, das in der Wirklichkeit als ausgeschlossen gilt. Selbst solch extreme Szenarien hat die Nagra modelliert. So geht sie zum Beispiel von der oben beschriebenen Spalte im Gestein aus. Allerdings mit dem Unterschied, dass noch viel mehr Wasser durchfliesst als im alternativen Szenario.
30 Jahre lang gerechnet
Von realistisch bis unmöglich: Für die verschiedenen Szenarien hat die Nagra etwa 45’000 Rechenfälle analysiert. Die gesamte Rechenzeit, die Parallelprozessoren in einem Rechenzentrum dafür benötigten, betrug rund 30 Jahre. Das Resultat: In sämtlichen Szenarien würde das Schutzkriterium eingehalten.
Warum aber rechnet die Nagra überhaupt mit Szenarien, die sie selbst für unwahrscheinlich, ja für praktisch ausgeschlossen hält? Weil es die 100-prozentige Gewissheit nicht gibt. Aus dem Grund muss auch der unwahrscheinliche Fall abgedeckt werden. Zum einen kann die Nagra so prüfen, wie robust das Lagersystem insgesamt ist. Zum anderen findet sie so heraus, welchen Anteil einzelne Barrieren zur gesamten Sicherheit beitragen. So wird zum Beispiel in einem Szenario angenommen, dass die Lagerbehälter aus Stahl fehlen oder schon nach kurzer Zeit durchgerostet sind.
Die Person, die dereinst direkt über dem Tiefenlager Gemüse anbaut, würde also in jedem noch so erdenklichen Fall mit weniger als 0,1 Millisievert Strahlendosis belastet. Das gilt übrigens auch für eine Person ennet des Rheins im benachbarten Deutschland. Einzige Einschränkung für beide: Niemand baut dort mehr Gemüse an, wenn ein Eiszeitgletscher die Region überfährt – ein realistisches Szenario in ferner Zukunft.

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