
Wasser ist gleich doppelt wichtig beim Tiefenlager. Zum einen dient das Lager dem Schutz unseres Trinkwassers. Zum anderen können radioaktive Stoffe am ehesten über Wasser aus dem Lager austreten.
Doch Wasser ist nicht gleich Wasser. Ob Regenwasser, Schmelzwasser oder Meerwasser: Je nach Entstehungsgeschichte schlägt sich das in der chemischen Zusammensetzung nieder. So hat jedes Wasser seinen eigenen Fingerabdruck.
Gewisse Atome oder Atomvarianten in verschiedenen Mengen machen den Unterschied aus. Dank solcher Spurenstoffe können Geologinnen und Geologen nachverfolgen, wie sich die Wasserarten im Gestein bewegen. Der dafür verwendete Fachbegriff Tracer geht zurück auf das Englische «to trace» für «verfolgen».
Aber warum ist diese Spurensuche wichtig? Weil das Schweizer Tiefenlager für radioaktive Abfälle ins Gestein gebaut werden soll. Genauer gesagt in den Opalinuston, eine Gesteinsschicht in rund 800 Metern Tiefe.
Die etwa 175 Millionen Jahre alte Tonschicht ist gut 100 Meter dick. Sie ist so dicht, dass sie für Wasser praktisch undurchlässig ist. Wäre dem nicht so, könnten über Spalten im Gestein schädliche Mengen radioaktiver Teilchen ins Grundwasser geschwemmt werden.

Warum eignet sich der Opalinuston für das Tiefenlager?
Dafür gibt es drei Gründe. Erstens ist der dichte Opalinuston für Wasser nahezu undurchlässig, wofür der hohe Gehalt von Tonmineralen verantwortlich ist. Zweitens quillt das Tongestein bei Wasserzutritt auf, sodass einmal entstandene Risse wieder abgedichtet werden. Und drittens bleiben strahlende Teilchen, sogenannte Radionuklide, an den Tonplättchen «kleben». All das bremst die Bewegung radioaktiver Stoffe so stark, dass aus dem Lager in grosser Tiefe nur sehr kleine, unschädliche Mengen austreten und in die Umwelt gelangen könnten.
Direkt über und unter dem Opalinuston folgen weitere tonhaltige Gesteinsschichten, die ebenfalls fast wasserundurchlässig sind. Aber danach gibt es durchlässige Schichten, sogenannte Aquifere. In ihnen fliesst Wasser, wenn auch nur sehr langsam.
Der Malmkalk oberhalb und der Muschelkalk unterhalb des künftigen Tiefenlagers sind solche Aquifere. Da auch sie etwas schräg im Untergrund liegen, kommen sie an einigen Stellen an die Erdoberfläche.

Damit gibt es eine Verbindung zwischen der Oberfläche und dem Untergrund. So sickert Wasser entlang dieser Schichten in die Tiefe – ob als Regen-, Schmelz- oder Meerwasser.
Wie die Tinte im Wasserglas
Und was geschieht dann? Wasser, das schräg in die Tiefe gelangt ist, bewegt sich weiter. Und zwar senkrecht, hinein in die Tonschichten. Doch weil diese Schichten eben sehr dicht sind, geschieht das äusserst langsam.

Der Antrieb hinter dieser Bewegung ist die sogenannte Diffusion: Besteht ein Konzentrationsgefälle, bewegt sich ein Stoff vom Bereich hoher Konzentration zum Bereich niedriger Konzentration. Das lässt sich auch im Alltag beobachten, wenn sich zum Beispiel der Tee in der Tasse oder ein Tropfen Tinte im Wasser ausbreitet.
Zurück zu den Tracern, mit denen sich die Wege von Wasser durchs Gestein nachverfolgen lassen. Die Stoffe im Malm- und Muschelkalk bewegen sich also durch Diffusion ins Tongestein. Sie wandern dabei im Zeitlupentempo durch die Poren im Gestein. Das sind winzige Hohl- oder Zwischenräume, die miteinander verbunden sind.

Rollende Wellen in Zeitlupe
Vor gut 20 Millionen Jahren war die Nordschweiz das letzte Mal von einem Meer bedeckt. Die Folge: Salzwasser sickerte in den Untergrund. Vom Malmkalk-Aquifer aus wanderte salziges Wasser durch Diffusion langsam in die tonhaltigen Schichten. Und das geschah selbst dann noch, als das Meer bereits wieder verschwunden war – so langsam ist diese Bewegung.
Chlorid ist der typische Tracer und somit der «Fingerabdruck» von Meerwasser. Der Stoff kommt daher auch in Kochsalz vor. Durch Diffusion hat er sich nach sehr langer Zeit gleichmässig im Porenwasser der Tongesteine ausgebreitet.
Das heisst, die Konzentration von Chlorid war überall die gleiche. Bewegung gab es erst wieder, als über die Aquifere neues – andersartiges – Wasser in die Tiefe gelangte. Das passierte, als vor gut zwei Millionen Jahren das Eiszeitalter begann und Schmelzwasser der ersten Gletscher versickerte.
Damit rollte eine weitere «Welle» in Zeitlupe durch die Poren der Tongesteine, diesmal aus Süsswasser. Die Folge: Das neue Grundwasser verdrängte das ältere, salzige Porenwasser allmählich.
Diesen Verdrängungsprozess konnte die Nagra nachweisen, indem sie das Porenwasser in verschiedenen Tiefen analysiert hat. Die Wasserproben dafür stammen aus den Tiefbohrungen in den drei zuletzt untersuchten Regionen Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost.
Die Verdrängung von Salz- durch Süsswasser ist noch nicht abgeschlossen. Sie schreitet bis heute fort. So gibt es in den Poren des Opalinustons noch immer Chlorid und damit Spuren vom alten Meerwasser. Im Herzstück des künftigen Tiefenlagers ist das Schmelzwasser der letzten Eiszeitgletscher also noch gar nicht angekommen.

Das zeigt, wie gut der Opalinuston Stoffe einschliesst, wie stark er ihre Bewegung abbremst. Diese Verlangsamung schafft Sicherheit. Dadurch erhalten die Abfälle im Tiefenlager die nötige Zeit, um durch radioaktiven Zerfall möglichst unschädlich zu werden.
Ein Grossversuch der Natur
In den Abfällen gibt es verschiedene Arten radioaktiver Stoffe. Die meisten Radionuklide sind metallisch und bleiben wegen ihrer elektrischen Ladung an den Tonplättchen des Opalinustons «kleben».
Nicht so beim radioaktiven Iod-129: Weil es anders geladen ist, ist es das wanderfreudigste Stoffteilchen in den strahlenden Abfällen. Darum hat es die Nagra besonders intensiv untersucht – auch mit Hilfe des Tracers Chlorid.
Denn die beiden Elemente sind chemisch sehr ähnlich. Somit lassen sich die Bewegungen von Iod-129 und Chlorid durchs Gestein – wenn auch in entgegengesetzter Richtung – gut miteinander vergleichen. Oder anders ausgedrückt: Die Natur hat schon gezeigt, wie langsam sich Chlorid im Tongestein bewegt.
Daraus lässt sich abschätzen, wie sich radioaktives Iod-129 aus dem Tiefenlager bewegt. Das geschieht, wenn die Endlagerbehälter aus Stahl nach 1000 oder mehr Jahren wegen Rost undicht werden. Die Bewegung von Chlorid ist wie ein gross angelegter Versuch der Natur, der deswegen auch als Naturanalogon bezeichnet wird.
Iod-129 würde rund 80’000 Jahre benötigen, um im Opalinuston etwa 45 Meter weit zu kommen. Das haben menschengemachte Experimente im Felslabor Mont Terri gezeigt.

Doch dabei handelt es sich letztlich um eine Schätzung, die auf räumlich und zeitlich beschränkten Versuchen basiert. Der Chlorid-«Grossversuch» der Natur ist daher ein sehr wertvoller und vor allem unabhängiger Beleg dafür, wie gut der Opalinuston radioaktive Stoffe zurückhält.
Nördlich Lägern auf Platz eins
Das Wissen über die Bewegung von radioaktivem Iod ist wichtig, weil es für den grössten Teil der Strahlendosis verantwortlich ist. Allerdings ist die austretende Dosis nicht gross. So liegt sie in den wahrscheinlichsten Szenarien ungefähr 500-fach unter dem vorgeschriebenen Grenzwert.
Dank der Tiefbohrungen konnte die Nagra in allen drei Regionen Tracer-Profile über die Stoffe im Porenwasser erstellen. Entlang der Bohrkerne stellen diese Profile grafisch dar, welche Stoffe in welcher Tiefe und Menge vorhanden sind.
Der Vergleich zwischen den Standortregionen zeigt, dass der Anteil an altem Porenwasser in Nördlich Lägern grösser ist als in Zürich Nordost und Jura Ost. Das bedeutet, dass dort der Austausch von Wasser im Untergrund am geringsten und der Abfall somit am besten eingeschlossen ist.

Titelfoto: iStock / iStock-Fotografie-ID: 2168025092
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