e-Newsletter 5 – Juli 2021
«Je mehr man darüber weiss, desto mehr verliert man die Angst vor einem Tiefenlager.»
In einer Serie befragen wir Frauen, die sich beruflich für die Entsorgung von Atommüll engagieren. Den Anfang macht Cornelia Wigger, Projektleiterin Raumplanung und Umwelt bei der Nagra. Angst vor Radioaktivität hat sie keine, Respekt schon.
Was motiviert dich, an der Entsorgung des Atommülls mitzuarbeiten? Wie bist du dazu gekommen?
Ich habe Geografie studiert und wollte ursprünglich nicht in die Forschung. Mein Wunsch war, an einem gesellschaftsrelevanten Thema mitzuarbeiten. Dann bekam ich die Chance für ein Doktorat am Paul-Scherrer-Institut. Ich habe dabei untersucht, wie sich radioaktive Substanzen langsam im Opalinuston verteilen. Dies ist eine wasserundurchlässige Gesteinsschicht, in der das Tiefenlager für die Abfälle gebaut werden soll. Die Aufgabe hat mich sehr motiviert. Vor allem auch weil sie mit der Entsorgung des Atommülls zu tun hat. Nach meinem Doktorat kam ich zur Nagra. Und damit wieder weg von der Forschung und hin zur Geografie als Raum- und Umweltplanerin.
Wie erklärst du Familie und Freunden deine Arbeit? Welche Reaktionen bekommst du?
Das sind interessante Fragen. Ich erkläre ihnen, dass ich für die Firma arbeite, die zuständig ist für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle der Schweiz. Für Abfälle, die wir nun mal haben. Wir sind nicht die Verursacher, sondern sind für eine sichere Entsorgungslösung zuständig – wir planen und setzen sie um. Salopp formuliert, schaue ich, dass alle Umweltaspekte so gut wie möglich berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass wir zum Beispiel nicht in Grundwasserschutzzonen bauen, die besonders geschützt sind und dass wir auch den Wald respektieren. Besonders wenn es um Oberflächenanlagen geht. Wir versuchen, einen guten Kompromiss zu finden, der unserem Projekt dient und möglichst wenig in die Umwelt eingreift.
Der Umweltbezug ist heute wichtiger denn je. Im Gespräch mit Leuten hilft mir mein Fachhintergrund als Geografin oft. Zudem habe ich im Hotlabor des Paul-Scherrer-Instituts gearbeitet, wo man mit radioaktiven Substanzen in Kontakt kommt. Ich habe gelernt, was gefährlich ist und was nicht. Deswegen habe ich den Respekt vor der Radioaktivität nie verloren, Angst davor habe ich jedoch keine.
Die Verantwortung bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle ist sehr gross und die Zeitdimensionen dahinter sind riesig. Wie gehst du damit um?
Ich bin mir der Verantwortung bewusst. Und mit dem Wissen, wie man mit Radioaktivität umgeht, kann ich vollständig hinter meiner Arbeit bei der Nagra stehen. Auch meine Forschungsarbeit am PSI, bei der es um die Langzeitwirkungen von radioaktiven Abfällen im Ton ging, hat mir geholfen, die technischen und zeitlichen Dimensionen eines geologischen Tiefenlagers zu verstehen und richtig einzuordnen. Ich versuche, möglichst offen mit den Themen Radioaktivität und Tiefenlager umzugehen und den Leuten die Angst zu nehmen. Je mehr man darüber weiss, desto mehr verliert man die Angst vor einem Tiefenlager. Davon bin ich überzeugt.
Rheinau: eine spezielle Bohrung
Wie verhält sich der Opalinuston im Umfeld von Störungen? Das wollen die Nagra-Geologinnen und -Geologen mit einer weiteren Tiefbohrung in der Gemeinde Rheinau (ZH) herausfinden. Zurzeit schliesst die Nagra zwei Bohrungen in der Gemeinde Stadel (ZH) ab. Anfangs Juli fährt das Bohrgerät in Rheinau auf.
In der Gemeinde Stadel (ZH) kehrt wieder mehr Ruhe ein – die Nagra schliesst die beiden Tiefbohrungen im Gebiet Hasliboden und im Gebiet Steinacker ab. «Wir waren bei beiden Bohrungen erfolgreich, die Qualität der Gesteinsproben ist sehr gut», erklärt Tim Vietor, Bereichsleiter Sicherheit und Geologie bei der Nagra. Im Hasliboden erreichte die Bohrung eine Endtiefe von 1’280 Metern, im Steinacker eine von 1’325 Metern. Die Bohrungen in Stadel haben das geologische Bild von Nördlich Lägern damit weitgehend vervollständigt.
Jetzt startet die Nagra eine spezielle Bohrung in Rheinau (ZH). Sie unterscheidet sich wesentlich von den sieben bisher durchgeführten Bohrungen in den drei Regionen Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost: «In Rheinau geht es nicht mehr primär darum, das Bild des Untergrunds in Zürich Nordost zu vervollständigen. Dank der Bohrungen in Trüllikon, Marthalen und Benken haben wir bereits eine sehr genaue Vorstellung davon. Uns interessiert mit dieser Bohrung speziell das Verhalten des Opalinustons im Umfeld von Störungen», so Vietor. Im Osten des Gemeindegebiets von Rheinau hat die Nagra bei früheren Untersuchungen senkrecht verlaufende Störungen im tieferen Untergrund identifiziert. Nun will sie abklären, wie diese Störungen im Opalinuston ausgebildet sind und ob bzw. wie sie dessen Eigenschaften beeinflussen.
Die Bohrung wird nicht, wie alle bisherigen, gerade gehalten. Das Bohrgestänge wird in der Tiefe abgelenkt. Das Bohrloch erfährt eine Kurve und bleibt dann schräg. «Das macht die Bohrung technisch sehr anspruchsvoll, denn wir müssen für die Untersuchungen punktgenau den gewünschten Bereich im Opalinuston durchbohren» erklärt Vietor.
Die Erkenntnisse aus Rheinau sind für das Verständnis über das Verhalten des Opalinustons bedeutsam. Damit ergänzt die neue Bohrung die Kenntnisse für alle drei potenziellen Standortgebiete. «Wir kommen dem grossen Ziel, die radioaktiven Abfälle der Schweiz sicher zu entsorgen, Stück für Stück näher», so Vietor. Nächstes Jahr gibt die Nagra bekannt, welche Region aus geologischer Sicht die beste ist. «Das wird ein wichtiger Schritt für das Jahrhundertprojekt Tiefenlager», erläutert Tim Vietor.
Das letzte Wort bei der Standortsuche, die vom Bund geführt wird, haben jedoch Bundesrat und Parlament – und, falls ein Referendum zustande kommt, das Schweizer Stimmvolk.
Mehrgenerationenprojekt Tiefenlager
«Ich werde den Verschluss des Tiefenlagers nicht mehr erleben», sagt Nagra-Chefgeologe und ETH-Dozent Tim Vietor. Bis der letzte Behälter mit Atommüll eingelagert ist, dauert es noch über 50 Jahre. Im Studiengang Ingenieurgeologie an der ETH Zürich gibt Vietor sein Wissen und seine Erfahrung der nächsten Generation von Geologinnen und Geologen weiter. Denn sie sind es, die dereinst das Mehrgenerationenprojekt Tiefenlager zu Ende führen werden.
Endlich mal keine Online-Vorlesung! Es ist kurz nach 9 Uhr, Tim Vietor begrüsst seine Studentinnen und Studenten am Bahnhof in Bülach. Die Exkursion findet statt – trotz Corona. Alle zeigen dem ETH-Dozenten auf ihren Smartphones ein Bild ihres negativen Corona-Schnelltests, alle tragen Masken. Mit dem Bus geht es los Richtung Nagra-Bohrplatz in der Gemeinde Stadel. Hier heisst es: Overall, Helm, Handschuhe, Sicherheitsschuhe, Schutzbrille – und los geht’s.
Wie man über einen Kilometer tief in den Boden bohrt, wissen die Ingenieurgeologie-Studentinnen und Studenten aus der Vorlesung. Sie kennen die Theorie. Heute sehen sie die Praxis. Nagra-Chefgeologe Vietor und seine zwei Kollegen führen die Studierenden über den Bohrplatz, zeigen, wie man die Gesteinsproben aus der Tiefe hochangelt und wie ein Teil der Proben für weitere Untersuchungen im Labor abgepackt werden. «Wir müssen die Gesteine im Untergrund genau kennen, um so den sichersten Ort für das Tiefenlager zu finden. Nur in einem Tiefenlager können wir die radioaktiven Abfälle der Schweiz sicher für bis zu einer Million Jahre lang lagern», erklärt Vietor.
Die nächste Station der Exkursion ist das Kernzwischenlager in Würenlingen. Alle Gesteinsproben, welche nicht im Labor analysiert werden, machen in dieser Lagerhalle einen Zwischenstopp. Hier werden die Bohrkerne von Nagra-Geologinnen und -Geologen genau angeschaut und für die Langzeitarchivierung vorbereitet. Alles wird genau dokumentiert. Entlang der Gesteinsschichten reisen die Studierenden mit ihrem Dozenten durch die Erdgeschichte. Es gilt der Grundsatz: je tiefer, desto älter. «Die Gesteine, die wir hier sehen, sind im Schnitt während einer Zeitspanne von einer Million Jahre entstanden», erklärt Vietor. Bis zu dem Punkt, an welchem für die nächsten 100 Meter nur noch ein mausgraues Gestein vorherrscht: Der Opalinuston, diejenige Gesteinsschicht, welche den Atommüll der Schweiz sicher einschliessen soll. Abgelagert wurde der Opalinuston in «lediglich» einer Million Jahre – für geologische Verhältnisse ist das tatsächlich ein sehr kurzer Zeitraum. «Weil der Opalinuston so schnell abgelagert wurde, ist er sehr gleichmässig und deshalb eigentlich auch langweilig».
«Genau das, was wir für ein Tiefenlager brauchen», erklärt Vietor. In seiner Vorlesung gibt er sein Wissen und seine Erfahrung der nächsten Generation von Geologinnen und Geologen weiter. Denn er selbst wird den Verschluss des Tiefenlagers nicht mehr erleben. Bis der letzte Behälter mit Atommüll im Opalinuston eingelagert ist, dauert es noch über 50 Jahre. Jüngere Generationen werden das Mehrgenerationenprojekt Tiefenlager weiter vorantreiben und abschliessen.
50 Jahre… ein Projekt mit einem beeindruckenden Zeitplan. Doch jetzt drängt die Zeit. Die Gruppe muss weiter, es warten noch weitere Stopps auf die Studierenden. Es gibt noch viel zu lernen!
Jetzt ein Felslaborbesuch – Genuss und Erlebnis zugleich
Im Sommer und Herbst sind Felslaborbesuche besonders interessant. Reisen Sie noch dieses Jahr ins urtümliche Haslital (BE) zum Felslabor Grimsel oder in die Juralandschaft nach St-Ursanne (JU) zum Felslabor Mont Terri. Geniessen Sie den Ausflug und diskutieren Sie mit uns im Felslabor über das Mehrgenerationenprojekt Tiefenlager. Wir freuen uns auf Ihre Reisegruppe.