
Das Herzstück des Tiefenlagers ist der Opalinuston. Das Tongestein ist so dicht, dass es den Atommüll besonders gut einschliesst. Doch um das Lager zu bauen, sind Eingriffe in das «Herz» nötig: Für die Lagerstollen wird Gestein herausgebrochen, zerstört. Um die Stollen abzustützen, wird fremdes Material wie Stahl oder Zement verwendet. Und auch die strahlenden Abfälle samt Behälter sind Fremdkörper im tiefen Untergrund.
Ist das Lager in rund 800 Metern Tiefe voll, wird es verschlossen. So wird auch die letzte Verbindung zur Erdoberfläche gekappt – das Endlager wird sich selbst überlassen. Was geschieht ab dann? Kommt es zu chemischen Reaktionen zwischen den eingebauten Materialien, den Abfällen und dem Opalinuston? Wenn ja: Was sind die Folgen für das Tiefenlager?

Eine Million Jahre: So weit in die Zukunft müssen die Antworten auf diese Fragen Bestand haben. Das ist der Zeitraum, in dem Mensch und Umwelt vor dem Atommüll geschützt sein müssen. Zur Einordnung: Nach 200’000 Jahren strahlen die hoch radioaktiven Abfälle noch so stark wie Uranerz, das zur Herstellung von AKW-Brennstäben abgebaut wird. Auch wenn solches Erz natürlich vorkommt: Schädlich für die Gesundheit ist es trotzdem.
Kurzum: Die Nagra muss Wissen produzieren für eine sehr lange Dauer. Aber wie ist das zu schaffen? Sie simuliert und kupfert ab. Was an ein gewieftes Schulkind erinnert, ist wissenschaftlich solide. Die Nagra führt Versuche durch, in denen sie reale Vorgänge nachbildet. Und sie lernt von der Natur – wie einst die Pioniere der Luftfahrt: Sie studierten den Flug von Vögeln, um Fluggeräte zu bauen. Indem sie also die Natur nachahmten, lernten sie dazu.

Natur als Vorbild
Die Experimente der Nagra lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. Zuerst ist da der Laborversuch. Zum Beispiel wird diese Frage untersucht: Um Hohlräume in den Lagerstollen zu füllen, wird ein tonhaltiges Material namens Bentonit verwendet. Wie gut leitet der Bentonit die Wärme der Endlagerbehälter ab, je nach dem, wie viel Wasser er enthält? In einem solchen Versuch läuft der Prozess zwar unter besonders kontrollierten Bedingungen ab. Doch weil er das räumlich und zeitlich in kleinem Massstab tut, ist die Aussagekraft über das Experiment hinaus begrenzt.
Zur zweiten Gruppe gehören die grossen Experimente. Dazu zählen Versuche der Nagra in Felslaboren wie etwa in Mont Terri. Hier lassen sich komplexere Prozesse simulieren, die über viele Meter und Jahre ablaufen. Sie kommen damit der Wirklichkeit schon wesentlich näher. Allerdings ist hier die Kontrolle von Störfaktoren auf das Experiment schwieriger als im Labor. Und im Hinblick auf die eine Million Jahre ist die Aussagekraft solcher Grossversuche auch beschränkt.

An der Stelle kommt die dritte Gruppe zum Tragen: die «Experimente» der Natur. Dank ihnen können Prozesse studiert werden, die teils über sehr grosse Zeiträume abgelaufen sind. In der Fachsprache werden sie als Naturanaloga bezeichnet. Aus ihnen lassen sich – mit genügender Vorsicht – Erkenntnisse gewinnen und Schlüsse auf die Zukunft ziehen. Es werden also Dinge in der Natur beobachtet, die es auch in der Welt der Technik gibt. So kann eben der Flügel eines Vogels zum Bau eines Flugapparates inspirieren.
Nagra forscht in Schweden
Theoretische Modelle bilden ein Stück der Wirklichkeit ab. Zum Beispiel, wie ein chemischer Prozess funktioniert. Wird das Modell mit Daten aus Experimenten «gefüttert», lässt sich mit Computersimulationen berechnen, wie dieser Prozess in Zukunft abläuft – wahrscheinlich. Denn in einem Tiefenlager läuft vieles sehr langsam ab, über zigtausende Jahre. Mit menschengemachten Versuchen kann also nicht überprüft werden, ob all das wirklich so ablaufen wird. Hier hilft ein Naturanalogon, weil es zusätzliche Hinweise liefert.
Ein solches Analogon wurde im schwedischen Eisenerzbergwerk in Kiruna gefunden. An seiner Untersuchung ist auch die Nagra beteiligt. Denn in dem Bergwerk tief unter der Erdoberfläche gibt es den erwähnten Bentonit von Natur aus direkt neben Eisenerz. Die beiden Gesteine berühren sich also, und das schon seit vielen Millionen Jahren. Das Eisen stellt das Analogon für die Endlagerbehälter aus Stahl dar.
Aber warum soll Bentonit auch in den Stollen des Schweizer Tiefenlagers eingesetzt werden? Wenn Wasser aus den Poren des Opalinustons in die Lagerstollen gelangt, quillt der Bentonit auf wie ein Schwamm.
Hohlräume werden verschlossen, abgedichtet. Dadurch dringt von aussen kaum Wasser bis zu den Stahlbehältern vor, sodass diese nicht vorzeitig rosten. Wenn die Behälter es in ferner Zukunft doch tun und undicht werden, treten strahlende Teilchen aus. Solche Radionuklide bremst der dichte Bentonit oder hält sie sogar wie ein Magnet zurück.

Diese günstigen Eigenschaften bleiben für sehr lange Zeit erhalten. Das hat das untersuchte Kiruna-Naturanalogon gezeigt. Der Bentonit im Bergwerk blieb praktisch unversehrt – und das mehrere hundert Mal länger, als es für das Tiefenlager nötig ist.
So konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass der Bentonit trotz des direkten Kontakts mit dem Erz nur geringe Mengen Eisen aufgenommen hat. Das ist relevant, weil Eisen die gewünschten Eigenschaften von Bentonit verringert.
Eine Million Messwerte täglich
Welche Reaktionen laufen zwischen Endlagerbehältern, Bentonit und Opalinuston ab? Dieser Frage geht die Nagra auch im Felslabor Mont Terri im Kanton Jura nach – seit zehn Jahren schon. Mit dem sogenannten Full-Scale Emplacement-Experiment simuliert sie einen Abschnitt des künftigen Tiefenlagers im Massstab 1:1. Zuerst wurde ein 50 Meter langer Lagerstollen aus dem Opalinuston gebrochen. Dann wurden drei Endlagerbehälter-Attrappen in dem Stollen platziert und die Hohlräume mit Bentonit aufgefüllt.
In den Behältern befinden sich keine abgebrannten Brennstäbe. Um ihre Wärme zu simulieren, werden die Behälter permanent beheizt. Hunderte Instrumente messen, wie sich die Wärme auf Bentonit und Opalinuston auswirken. Dabei werden Veränderungen von Temperatur, Feuchtigkeit, Druck oder Gaszusammensetzung festgehalten – mit rund einer Million Messwerte pro Tag. Mit all diesen Daten wird der Blick auf die nächsten eine Million Jahre genauer.
